„Seid ihr eben losjeritten!“ Die Hände im Schoß gefaltet, saß die Badekow ganz ruhig. Ihre Lippen bewegten sich, aber man hörte sie nicht sprechen.
Einen scheuen Blick warf der Heimgekehrte nach ihr: betete sie? Es sah fast so aus. Wäre er doch nur erst weg von hier! Sehnsüchtig sah der junge Mensch nach der Stubentür, aber er traute sich nicht, jetzt zu gehen. Verlegen stand er, kaum zu atmen wagend.
Da lächelte ihn die alte Frau ein wenig an; ihm die Hand hinstreckend, sagte sie wehmütig: „Dank dir ooch schön, Paule. Nu kannste jehen!“
Er schüttelte ihr kräftig die Hand. Dann war er glückselig, draußen zu sein. Ha, wie dufteten die Linden! Die Sonne schien. Und heute nachmittag würde er den Engländer wieder treffen; oben auf der Bockbrauerei hatten sie sich verabredet, da konnte man das Feld weit übersehen.
Und seine Tochter würde der Mr. Brown mitbringen!
Ein belebender Glanz kam in Pauls wasserblaue Augen, sein Mund breitete sich zu einem frohen Lachen. Das war ja noch ziemlich gnädig abgelaufen, geweint hatte sie nicht!
Aber jetzt weinte Hanne Badekow. Tränen strömten ihr übers Gesicht; sie war allein; nun weinte sie sich aus. Ein tief-innerliches Schluchzen stieß sie: ihr Junge, eines ansässigen Geschlechtes ehrenwerter Sohn, ein Badekow, der lag nun in fremder Erde, wie ein Hergelaufener! Irgendwo; kein Mensch wußte den Platz. Und wenn sie auch hinreiste auf ihre alten Tage, auch sie würde ihn nicht finden. Eingebuddelt hatten sie ihn in fremde Erde; er lag nicht bei seinem Vater, bei seinen Großeltern, bei seinen Urgroßeltern vor der alten Kirche zu Tempelhof. Da lagen sie alle, die Badekows, seit 1500 schon. Auch sie würde dort liegen – nur ihr Wilhelm nicht! Und das war ihr das Bitterste. Wenn sie jetzt nach dem Kirchhof ging, die Gräber zu begießen – es war stets ihr liebster Spaziergang gewesen –, so würde es ihr immer einen Stich durchs Herz geben. Nein, darüber kam sie gar nicht weg!
Sie weinte, wie sonst nur ein junger Mensch weint, laut, heftig, wie gar nicht zu trösten; weinte, bis das Gebimmel vom Turm Mittag anzeigte. Dann wischte sie sich hastig das Gesicht ab: Gott im Himmel, was fingen die Mädchen denn an? Man hörte kein Gerappel in der Küche, man roch auch noch nichts! Kochte Mieke denn nicht? Und wo Auguste steckte? Die klimperte nicht nebenan in der guten Stube auf dem Klavier.
Flink stand Hanne Badekow auf, nahm sich nur noch die Zeit, mit den befeuchteten Handflächen den ein wenig in Unordnung geratenen glatten Scheitel wieder fest anzustreichen, dann lief sie nach hinten in die kleine Küche.
Diese war leer. Das Feuer brannte wohl im Herd, aber kein Essen war aufgesetzt. Da standen noch die Kartoffeln, die sie selber heute in der Frühe geschält hatte, in der Wasserschüssel auf der Eimerbank, und auf dem Tisch lagen die Mohrrüben noch genau so, wie sie sie heute morgen im Garten gezogen und der Mieke in die Küche gebracht hatte.
„Mieke, Mieke!“ Keine Antwort.
„Juste!“ Ah so, die war ja wohl mal wieder in ihrer Klavierstunde. Aber die Mieke mußte doch da sein?!
Die Küchentür führte auf den Hof, die Mutter rannte hinaus. „Mieke! Mieke!“ Das mußte sie hören, wenn sie in der Nähe war. Ob sie vielleicht drüben bei Grete in der Küche saß und über Lachen und Schwatzen die Zeit vergaß? Nein, das konnte nicht sein, Grete war viel zu pünktlich, die würde sie schon herüberschicken, wenn’s an der Zeit war. Wo war Mieke?
Die Mutter spähte umher. Der große Hof lag ganz einsam im stillen Sonnenglanz. Lautlos nur trippelten rotfüßige weiße Tauben und suchten sich Körner. Die Pforte zum Garten stand offen, aber so weit man den langen berasten Gang zwischen den Stachelbeerbüschen hinuntersehen konnte, nirgends war Mieke.
Mit einem Seufzer ging die Badekow in ihre Küche zurück, sie kochte nun selber. Sie tat das gern, es war ihr ein Genuß – nut um Mieke zu beschäftigen, hatte sie darauf verzichtet –, aber heute seufzte sie dabei. Es war ein rechtes Kreuz mit der Mieke, bei nichts, aber auch bei gar nichts hatte die Bestand! Und kein Geschick zu irgend etwas. Die Ferse am Strumpf konnte sie noch immer nicht machen, nur Waschlappen und Staublappen verstand sie zu stricken. Man hatte ja immer gehofft, es würde später mit ihr noch anders werden – als sie vierzehn Jahre alt war, hatte sie den Veitstanz gehabt –, aber war es eigentlich besser mit ihr geworden?!
Die Mutter trat wieder hinaus auf den Hof und rief wie vorhin, noch lauter, noch unruhiger: „Mieke! Mieke!“ – – –
Mieke Badekow konnte das Rufen nicht hören, sie war auf den Acker gefahren; sie dachte gar nicht mehr daran, daß sie kochen sollte. Vor ein paar Stunden, als sie im Garten schlenderte – eigentlich wollte sie nur Suppengrün holen, aber sie verweilte sich –, hatte sie hinten über den Zaun, der an den Feldweg grenzte, den Bauern Brenneke gesehen. Er saß auf seiner Karre vorn auf dem Brett, wollte auf seinen Acker fahren, gen Rixdorf zu. War das ein hübscher Mann!
Miekes schwachsichtige Augen zwinkerten, sie holte ihre Brille aus der Tasche, um ihn besser sehen zu können. Glückstrahlend stand sie dann am Zaun, er hatte sie angelacht. Sie lachte wieder.
Branneke hielt an. Er amüsierte sich: die dachte wohl, sie gefiele ihm so gut?! „Na, wollen Se mitfahren?“ Er sagte es nur zum Spaß, er hatte gar nicht dran gedacht, daß sie seine lachende Frage ernst nehmen könnte.
Aber sie nahm sie ernst. Der hübsche Mann wollte mit ihr in die Felder fahren, der Klee blühte, Kornblumen gab’s auch schon, sie würde sich einen Kranz winden, einen Strauß pflükken! „Ja, ja“, sagte sie hastig. Ihre Wangen glühten vor Eifer, sie machte Anstalt, über den Zaun zu klettern, denn das wußte sie doch noch, die Mutter würde es ihr nicht erlauben, so durfte sie sich nicht vorn herum durchs Haus trauen.
Er half ihr. So was war ja noch gar nicht dagewesen, das Mädel, eine Badekow, stieg zu ihm über den Zaun?!
Sie genierte sich gar nicht. Harmlos ließ sie ihre dicken Waden sehen in den weißen Strümpfen. Ein Zipfel ihres Unterrocks war an einem Nagel der Lattenplanke hängen geblieben, der ganze Rock strupfte sich in die Höhe; Bauer Brenneke mußte sie losmachen, sonst hätte sie zappelnd gehangen wie ein Fisch an der Angel.
Lachend saß sie nun neben dem Mann auf dem Karrenbrett; er hieb auf die Gäule, daß sie wie rasend ausgriffen. Ihm war doch nicht ganz wohl bei der Sache. War es auch recht, die dämliche Mieke mitzunehmen? Ach was, sie selber hatte es ja gewollt! Was konnte er denn dafür?! Der Karren rumpelte mächtig auf dem schlechten Weg; bei jedem Stoß, der die auf dem Brett Sitzenden in die Höhe warf, jauchzte das Mädchen laut auf, und wenn es gegen den Mann geschleudert wurde, lachte es noch viel mehr. Mieke war wie ein Gummiball, weich, rund und elastisch. Da machte Bauer Brenneke sich ein Vergnügen daraus, sie recht tüchtig zu schubsen: die konnte schon einen Puff vertragen. Zuletzt kniff er sie in Arm und Hüfte, und sie lachte auch dazu.
Als Mieke lange nach Mittag erhitzt und zerzaust zu Hause wieder ankam, trug sie auf dem Kopf einen Kornblumenkranz und in der Hand einen großen Strauß: Mohn, Winden, weiße Sternblumen und allerlei Gräser. „Da“, sagte sie, „für Vaterns Jrab“, und schleuderte der Mutter Kranz und Strauß in den Schoß.
Wer konnte ihr böse sein? Es war ihr eben in den Sinn gekommen, Blumen zu pflücken; in die Felder war sie gelaufen, sie war nun einmal ein Kind und blieb ein Kind. Die Badekow, die tüchtig hatte schelten wollen, schwieg: auszanken hatte ja doch keinen Zweck, Mieke würde nie und nimmer begreifen, daß sie unrecht getan hatte. So sagte sie denn nur: „Du darfst nich fortlaufen, Mieke, ohne det de mir fragst, hörste?“
Und die Mutter nahm den Strauß, den die Tochter ihr in den Schoß geworfen hatte, roch daran und stellte ihn ins Wasser: „Danke schön, Kind!“
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