Kurz darauf fuhr ein Streifenwagen los.
Kommissar Tann erschien eine knappe halbe Stunde später in der Alsenstraße. Der Polizeiwagen parkte vor dem hell erleuchteten Haus der Familie Gressmer. Einige Nachbarn standen herum.
Tann erkundigte sich bei seinem uniformierten Kollegen, der an der Eingangstür Posten bezogen hatte.
Frau Siemer, die Nachbarin, hatte gegen zehn Uhr im Nachbarhaus die Rollläden herunterlassen wollen. Im Haus herrschte ein schreckliches Durcheinander und sie verständigte sofort die Polizei.
Frau Siemer saß im Wohnzimmer. Sie war sehr blass. Auf Tanns Frage, wann sie das letzte Mal im Haus gewesen war, antwortete sie aufgeregt:
»Heute Morgen, Herr Kommissar. Jeden Morgen habe ich die Rollläden hochgezogen. Und nun das! Was wird nur Herr Gressmer sagen?! Er ist zur Kur.«
»Nun beruhigen Sie sich erst einmal, Frau Siemer. Wie können wir Herrn oder Frau Gressmer erreichen?«
Tann hatte sich in einen Sessel gesetzt. Zwei Männer der Spurensicherung waren gerade angekommen. Frau Siemer schaute ihnen interessiert zu. Sie wandte sich wieder an den Kommissar.
»Frau Gressmer ist im Krankenhaus. Herr Gressmer hat mir seine Adresse und Telefonnummer aufgeschrieben. Ich habe den Zettel dort drüben auf die Anrichte gelegt.«
Sie stand hastig auf, ging zur Anrichte und schaute sich suchend um. Alle Schubladen waren aufgezogen und der Inhalt zum großen Teil einfach auf den Boden gekippt worden. Tann trat zu ihr.
»Fassen Sie bitte nichts an, Frau Siemer. Unsere Leute werden den Zettel schon finden. Wissen Sie den Kurort?«
»Natürlich, Bad Oeynhausen.«
»Das hilft uns bereits weiter. Sie können jetzt nach Hause gehen, Frau Siemer. Wenn noch Fragen sind, werde ich mich an Sie wenden.«
Er geleitete die Frau hinaus. Draußen war es still. Die Anwohner hatten sich in ihre Häuser zurückgezogen.
Tann hatte sich Handschuhe angezogen und untersuchte die Sachen vor der Anrichte. Nach kurzer Zeit wurde er fündig.
Die Kollegen von der Spurensicherung waren schon fort. Tann hatte alle Räume angesehen, zuletzt das Zimmer der verstorbenen Tochter. Hier herrschte die größte Unordnung. Kopfschüttelnd verließ Tann den Raum. Das Durcheinander ließ darauf schließen, dass der Einbrecher etwas gesucht hatte. Aber was? Der Schmuck von Frau Gressmer lag verstreut auf dem Boden des Schlafzimmers.
Noch einmal überprüfte er das Schloss an der Haustür. Die Kollegen hatten keinerlei Hinweise auf ein gewaltsames Eindringen gefunden. Der Einbrecher musste im Besitz eines Schlüssels gewesen sein. Tann erinnerte sich, dass der Schlüssel von Susanne Gressmer verschwunden war. Hatte ihn jemand gefunden? Unwahrscheinlich. Er konnte sich eher vorstellen, dass jemand den Schlüssel die ganze Zeit gehabt und die Abwesenheit der Hausbesitzer genutzt hatte.
Die Nacht war warm. ›Richtiges Biergartenwetter‹, dachte Tann. An der Haustür hatte sich sein Kollege Klaus Mersch postiert. Ein weiterer Kollege saß im Wagen.
»Klaus, ich fahr ins Büro den Bericht machen.«
Mersch hatte es sich auf den Treppenstufen gemütlich gemacht. »Alles klar!«, rief er und Tann fuhr davon.
Gernot Gressmer traf gegen fünf Uhr in der Frühe vor seinem Haus ein. Tann erwartete ihn bereits. Gressmer begrüßte ihn nur kurz und ging hinein, um den Schaden zu begutachten. Tann folgte ihm wortlos. Nachdem Gressmer einige Zeit damit verbracht hatte, die einzelnen Räume zu inspizieren, ließ er sich im Wohnzimmer entnervt in einen Sessel fallen.
»Schrecklich! Die haben alles durchwühlt!«, stöhnte er.
»Ist Ihnen schon bewusst, welche Dinge fehlen?«
Tann hatte sich an die Anrichte gelehnt und betrachtete den Hausbesitzer aufmerksam. Gressmer hob hilflos die Arme.
»Bei dem Chaos! Wie soll ich da wissen, was fehlt?«
»Ist der Schmuck Ihrer Frau denn noch vollständig?«
»Ich glaube, ja. Schon komisch! Dabei hat meine Frau die Stücke extra versichern lassen!«
Tann horchte auf. »Interessant! Haben sie Fotos?«
»Sie sagen es! Dass ich nicht selbst darauf gekommen bin.« Er stand auf und ging zur Anrichte. »Die Fotos hatte meine Frau ganz unten in der Schublade.«
Er bückte sich und kramte eine Plastikhülle aus der Schublade.
Tann betrachtete die Fotos etwas abwesend. Er war erschöpft und müde von der langen Nacht. Das Gefühl, irgendetwas übersehen zu haben, wirkte sich auch nicht gerade motivierend aus.
»Herr Gressmer, die Spurensicherung hat ihre Arbeit erledigt. Sie können alles wieder einräumen. Einer unserer Beamten wird hier bleiben und Sie unterstützen. Bitte prüfen Sie alles genau. Wenn Fragen sind, in unserer Leitstelle ist immer jemand erreichbar.«
Er hinterließ die Telefonnummer und machte sich auf den Heimweg.
Zwei Tage später waren die Ermittlungen abgeschlossen. Die Polizei stand vor einem Rätsel. Fingerabdrücke waren ausschließlich von der Nachbarin und den Eheleuten Gressmer festgestellt worden. Nachdem Gressmer mit Unterstützung seiner Schwester aufgeräumt hatte, fehlte augenscheinlich nichts, nur eine teure chinesische Vase war zerbrochen. Einbruchspuren konnten nicht festgestellt werden.
Hauptkommissar Brunger hatte seine Leute zur Lagebesprechung zusammen getrommelt. Brunger gehörte zur Kriminalpolizei Bielefeld und war vom Präsidium für die Aufklärung von Mordfällen nach Gütersloh abgeordnet worden. Er leitete die Einsatztruppe im Fall Gressmer. Die Hände tief in den Taschen seiner schwarzen Jeans vergraben, marschierte er auf und ab, bis alle Platz genommen hatten.
»Der Fall Gressmer ist mir ein Rätsel. Keine Einbruchspuren, keine geraubten Gegenstände. Hat einer der Anwesenden eine Idee, was da geschehen ist?« Brunger beobachtete seine Kollegen aufmerksam.
»Vielleicht war es Gressmer selbst oder seine Frau, um die Versicherungssumme kassieren«, fiel Klaus Mersch ein. Erheiterndes Gelächter.
»Was will er denn kassieren, wenn nichts fehlt?«, knurrte Alfons Weiß.
»Also, meine Herren. So dumm finde ich die Idee gar nicht«, fiel Brunger ein. »Gressmer hat ein Alibi, aber seine Frau ist noch nicht befragt worden. Sie könnte theoretisch tagsüber das Chaos veranstaltet haben. Tann, Sie fahren noch einmal zu Gressmer. Danach besuchen Sie die Frau. Irgendwas ist da faul. Am besten machen Sie sich gleich auf den Weg.«
Tann erhob sich. »Okay, dann will ich mal los.«
Tann traf Gressmer im Vorgarten. Er trug derbe Gartenhandschuhe und beschnitt den Rosenstrauch.
»Tag, Herr Kommissar. Gibt’s noch was?«, fragte er, ohne mit der Arbeit einzuhalten.
Tann sah, wie sich beim Nachbarhaus die Gardine bewegte und meinte: »Es ist besser, wenn wir hineingehen.«
»Bin sofort soweit«, brummte Gressmer, griff seinen Korb und ging zur Haustür. Seine groben Gartenschuhe zog er aus und ging auf Socken ins Haus. Tann folgte ihm.
Etwa eine Stunde später besuchte Tann Frau Gressmer im Landeskrankenhaus. Er fand sie im Park. Sie machte einen zufriedenen Eindruck. Als Tann auf ihre Tochter zu sprechen kam, lächelte sie sanft:
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