H. DERHANK
Der Zwilling
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel H. DERHANK Der Zwilling Dieses ebook wurde erstellt bei
Sylvie liebt Leon
Die Verwandlung
Eine fremde Welt betreten
Sich fragen, wer man ist
Ich in der Mundhöhle
Der Spiegel
Nullphase: Erwachen ohne Erinnerung
Seelenscan
Wiedergeburt II
Skepsis
Gänse im Park
Die Therapiegruppe
Ein ewiger Krebspatient
Orgasmus technicus
Traum(a)
Gottes Seele
Wieder (nicht) zu Hause
Das Geschäft mit Spenderkörpern und -hirnen
Und wenn wir uns lieben?
Schlaflos beieinanderliegen
Rekonvaleszenz
Wo Musik ist, lass dich nieder
Davon laufen lernen
Nach außen telefonieren
Ankommen
Der Vater
Werkstatt des Lebens
Avatare stürzen ab
The man with the child in his eyes
Der Andere
E-Mail for you
Mutter
Den Anderen von ferne retten
Meine Familie
Ich bin du
Meine, meine Familie
Sie hat Krebs und keinen Inder
Im Tal des Himalaja
Wen liebt Franka?
Katharina die Schöne
Angesichts des Todes
Die Beichte
Day After
Vergebung und ob man ein zweites Mal heiratet
Im Turm der GESELLSCHAFT ®
Mit Gewalt
Das morphocerebrale Feld
Kontinuum
Die Verwandlung
Erwachen
Dank
Der Autor
Der Verlag
Impressum neobooks
LSD - Verlag Literarische Sammlung DERHANK
www.LSD-Verlag.de
»Wir machen Sie unsterblich!«
Der größte aller Menschheitsträume ist wahr geworden: Jeder, der es sich leisten kann, lässt regelmäßig sein Gehirn scannen, damit bei Bedarf - sprich: im Todesfall - die Gesellschaft ®das gespeicherte Ich reinkarniert.
Thomas V. erwacht eines Tages im Körper von Leon P. Der wurde zwar nach einem tödlichen Unfall wiederbelebt, doch die Gesellschaft ®hat versehentlich das falsche Bewusstseins-Backup in dessen Kopf gepflanzt.
Ohne seine wahre Identität preiszugeben, spielt Thomas mit - spielt den Anderen, als wäre er es selbst. Er bekämpft den Ekel vor seinem fremden Körper, versucht, die nie gekannte Ehefrau zu lieben und sogar den schrecklichen neuen Vater zu akzeptieren, der sich für den Fall des eigenen Ablebens einen Ersatzkörper in Indien reserviert hat. Und tatsächlich, trotz vermeintlich eklatanter Erinnerungslücken wird
Thomas als Leon schließlich wahr- und angenommen.
Aber so sehr er sich auch bemüht, es zieht ihn immer wieder zurück in sein altes Leben - das jedoch besetzt ist von dem, der er einst gewesen zu sein glaubt: vom echten Thomas, der nichts von der Kopie seines Ich in einem Fremden weiß. So wird Thomas II zum heimlichen Stalker seiner selbst. Als dann noch eine längst verloren geglaubte Liebe wieder auftaucht, eskaliert die Situation. Und die Gesellschaft ®sieht sich genötigt, ihren Fehler wiedergutzumachen.
In einer nahen Zukunft ist der medizinische Fortschritt dank Gentechnik, künstlicher Organe und hochsensitiver Prothesen in der Lage, im Todesfall jeden Menschen, und sei er noch so alt, krank oder verletzt, wiederherzustellen. Einziger Schwachpunkt bleibt das Gehirn, das binnen weniger Minuten irreversible Schäden nimmt, weshalb eine Wiederbelebung zwar den Körper zurückholt, nicht aber das, was wir unter dem Wort 'Ich' verstehen. Erst die Entdeckung des 'morphocerebralen Feldes' verspricht den Durchbruch in die Unsterblichkeit. Dank einer digital gespeicherten Momentaufnahme des Bewusstseins lässt sich nun auch das Gehirn eines Verstorbenen nachzüchten, sodass der Mensch in Gänze wiederaufersteht.
Doch ist der, der dann erwacht, wirklich noch der, der er zuvor gewesen ist? Wann ist das Ich noch dasselbe Ich? Was ist es, was uns Persönlichkeit, Individualität, Identität verleiht? Wo bleibt die unverwechselbare Seele, wenn es den Neurowissenschaften gelingt, Kopien unserer selbst anzulegen? Und was sagt eigentlich Gott dazu?
Für Thomas, den ZWILLING, zerreißen bei der Suche nach seinem ich-bin-der-ich-bin die transzendenten Vorstellungen des Menschen wie illusionistische Vorhänge - als wären sie nur dazu geschaffen, die abgründigen Untiefen der Ichfalle zu verschleiern. Denn jenseits unserer Selbsttäuschung ist nichts: kein Gott, keine Seele, nicht einmal ein konsistentes Ich und auch sonst nichts, das über den Mahlstrom aufblitzender Wahrnehmungen hinauszeigt. Allein die Liebe ist noch für ein Wunder gut, aber auch die kann nur den retten, der nicht an ihr verzweifelt.
Erwachen
und sich wiederfinden in einem anderen Körper,
als dem erinnerten,
und allmählich begreifen,
dass man nicht mehr man selbst ist.
Leon, ach du mein wilder Leon.
Staubwedeln auf seiner Gitarre, im Musikzimmer, wo alles rumliegt, und Sylvie nicht staubwedeln müsste, weder als Putz- noch als Hausfrau, Staubwedeln ist eigentlich ein Tick und hat was mit Aneignen zu tun, sich die Wohnung in Besitz nehmen, das ganze Haus, wenn keiner da ist, denn der Junge trifft sich heute mal auswärts (ein Wunder), das Haus wäre aber genauso leer, wäre er hier, nein, das ist gemein, ich sollte so nicht über meinen Jungen denken, Jungs sind so, in dem Alter usw., und mein anderer Junge ist aber auf dem Heimweg, mein großer starker Junge Leon; ach du mein Leon.
Sylvie wedelt Staub, wo fast kein Staub ist, sie wedelt mit dem altmodischen Erbstück von anno Großmama, ein Stab aus fast schwarz gedunkeltem Holz und ebenso schwarzen, noch wunderbar erhaltenen, dicht gebundenen Straußenfedern, sie wedelt zwischen den unzähligen bunten elektrischen Effektgeräten, die in einem offenen Instrumentenkoffer aneinandergereiht liegen, sie wedelt zwischen den Kabeln und Steckern, sie wedelt an Mikrofonständern und Gitarrenhaltern, sie wedelt an Röhrenverstärkern, die so groß sind wie Wäschetruhen, an kleineren Amps und an Mischpulten, sie wedelt an Kopfhörern, Kabeltrommeln, Mikrofonen und an einem Aufnahmegerät, und sie wedelt an ihren eigenen Instrumenten, meine Flöten, denkt sie ein bisschen sentimental, ihre großen Blockflöten, die in einem Flötenständer stehen, und ein versuchsweise angeschafftes Didgeridoo, das sie auch spielt, nicht besonders gut, die Zirkulationsatmung will nicht bei ihr, Zirkulationsatmung ist wie gar nicht atmen, wie nicht atmen und trotzdem nicht ersticken, Zirkulationsatmung ist wie den Moment anhalten, wie Zeit anhalten und in der angehaltenen Zeit so was wie eine eigene Zeit spielen, so ist der Klang, den sie mag, den sie aber selbst nicht beherrscht auf dem Didge. Sylvie wedelt den imaginären Staub von dem australisch bunt bemalten Stamm aus Eukalyptusholz. Leons Gitarrenspiel ist so ähnlich, sie haben das Didge deswegen gekauft, um gemeinsam zu spielen, seine zeitangehaltene Elektrizität, und sie den zeitangehaltenen Atem.
Sollte nicht sein, leider, aber ihre Flöten schaffen das auch, und mit den Flöten ist sie gut, besonders mit den großen tiefen, der Bassflöte zum Beispiel, oder der Schalmei, ein Stiefkind in der Flötenreihe, so wie das Didge, aber die Schalmei spielt Sylvie göttlich, sagt jedenfalls Leon. Mein Beitrag ist klein, denkt sie, aber wenn sie zusammenkommen oder Konzerte geben, in kleinen Klubs und am liebsten bei Leuten zu Hause, Kammerkonzerte im Wohnzimmer, dann bin ich ich, dann ist Sylvie ganz bei sich, ganz glücklich, dann bilden Gestern, Heute und Morgen einen Punkt. Einen einzigen Punkt. Vielleicht liebe ich Leon manchmal deswegen so sehr, dass es wehtut. Was nicht normal ist, nach so langer Zeit, wer hat schon das Glück, einen Ehemann nach 16 Jahren immer noch so zu lieben, das ist nicht normal, das ist das Glück.
Читать дальше