Ein plötzlicher Geruch von kräftigem Tee, Pfefferminze? Und gleich wieder vorbei. Dann erneut, ich rieche ein Wort, jemand duftet ein Wort, ich rieche meinen Namen, nein, nicht meinen, aber immer wieder diese kurzen Duftwolken von rechts. Thomas fragt sich ins Lichtdunkelsüße hinein, wer das sein könne, und ob Franka zu ihm zurückgekehrt sei, oder - ein furchtbarer Gedanke - er wegen Franka hier liegt!? Wegen ihr sich umgebracht haben?, manchmal war ich kurz davor (aber nie wirklich!). Muss ich wieder weinen?, was sich in einem Kopf, der so anders ist - so anders, dass, egal, WAS passiert ist, es schrecklich gewesen sein muss -, ganz seltsam anfühlt. Aber er hört die Tränen ganz nah bei sich oder zumindest diese Vorstufe von Tränen, ein plötzliches, Schluckreize verursachendes Zum-Heulen-zumute-Sein, was das ganze Gesicht aufbläst und wie gegen ein Kissen drückt, mit dem man dich ersticken will, es ist, als wäre das Gesicht angeschwollen, furchtbar angeschwollen, und erst jetzt hörst du das falsche Gebiss in dir, die Stellung der Zähne, kleiner Tentakel namens Zunge spielt Klavier, tastet alles ab, hinten eine stille Lücke, zwei Lücken, die Abstände zwischen den Klängen sind zu groß, oder die Klänge zu leise oder der Mund zu groß oder die Zunge zu klein, überhaupt wessen Speichel höre ich gerade, höre ich?, schlucke ich?, ich schmecke ihn nicht und doch zugleich, wen schmecke ich da? Dir kommt ein ekelhafter Würgereiz, die falsche Kehle zieht sich zusammen, als wollte sie die kleine fremde Zunge verschlucken, von jetzt auf gleich spielt dein soeben noch tränennah gewesenes Gesicht eine Schweißperlensonate, voller Hitze, mein Kopf, denkt Thomas, ist unter eine Straßendampfwalze geraten, gewesen, aber ich erwache, reg dich nicht auf, ich ERWACHE! Und das ist das Wichtigste.
Denkt Thomas.
»Leon?!«, riechst du die Stimme erneut.
Für eine gefühlte Sekunde stockt Thomas' Gehirn. Wer? Wer bin ich? Oder war das nur eine sinnliche Ungenauigkeit?, ein falscher Geruch? Ton? Stimme? Doch der Geruch wiederholt sich: »Leon!«, Pfefferminze, aber du riechst gar nicht den Namen, sondern die Stimme.
»Hörst du ... mich?« Hören? Kann man denn Stimmen hören?
»Leon, bist du wach ...?«
Jetzt hörst du sie tatsächlich, natürlich hört man Stimmen, wie konntest du was anderes denken? Sie klirrt oder kratzt, die Stimme, sie riecht nach Glas - nein, sie KLINGT nach Glas, und hat zugleich etwas Ersticktes, Angstvolles, und dann eine andere Stimme, männlich (was überhaupt dazu führt, die erste Stimme als weiblich zu identifizieren), die duftet beruhigend auf sie ein, auf die Person, die dich Leon nennt.
Ich will nicht wach werden.
Du weißt, dass Nicht-wach-werden-Wollen nur ein Fluchtreflex ist, weißt du?
Ja, ich will weg!
Aber Thomas kann die unbekannte Hand auf seiner (meiner?) Hand nicht abschütteln, er versucht es nicht einmal, er hat Angst, diese Hand zu bewegen, er ist viel zu befangen, das erste Mal in seinem Leben diese, diese Hand zu bewegen, die Zehen sind kein Problem gewesen, aber die Hand, die Hand, die ist nicht nur zum Greifen da, die Hand macht viel mehr als funktionieren, sie macht etwas, was mit anderen Händen zu tun hat, aber was nur, was? Um Himmels willen, WAS???
Viele Jahre später erwacht Thomas noch immer in einem Krankenzimmer. Mit offenen Augen, die im Dunkeln und aus diesem Liegendwinkel nur an den Sichtfeldrändern Dinge unscharf wahrnehmen, z.B. Geräte, die leise regelmäßige Töne von sich geben, und ein Fenster (Vorhänge?), ja, es ist dunkel, er ist nicht blind oder so etwas, es ist einfach nur tiefe Nacht. Es ist auch nicht viele Jahre später, das war nur ein Gefühl von unbeschreiblich großer Distanz gewesen, zeitlich, vielleicht auch räumlich, ich schaue in die unendliche oder auch ewige Nacht und versuche, nicht zu denken, oder die Gedanken nicht zu quälen, sie einfach vorüberziehen zu lassen, Gedanken von Arbeit, ich denke Arbeit, Entwürfe, ich denke Hausbauen, ich denke Büro und Landesbauordnung und Brüstungshöhen von Balkonen ...
»Leon?« Als zerbräche Glas.
Es ist wieder Tag. Fremden Speichel erzeugen und mit fremden Zähnen und einer falschen Zunge das Nasse in der unbekannten Mundhöhle zerkauen, schon wieder Ekel, wieder Würgen, ich muss mich zwingen, diesem Mund fernzubleiben, denk lieber an die Hand, oh, Hand auf Hand, wieder Hand auf Hand, da ist sie wieder, ich habe so schön geträumt, ein warmer satter Traum, der glücklich macht, aber schon ist er weg, nicht die kleinste Erinnerung, weggeschoben von diesem fremden Namen, dieser fordernden Stimme, ich erinnere mich an diese Stimme, diese fremde, nach Pfefferminze schmeckende Stimme, nein, das ist nicht Franka, nein, das ist sie nicht. Aber ich habe sie schon einmal gerochen, neulich erst, im Bus, wir haben im Bus nebeneinander gesessen, und die Stimme hat meine Hand gehalten, und ich hatte die Augen geschlossen, habe gelegen, aber wie? Im Bus gelegen? Erinnere ich mich an den Unfall? Plötzlich bist du dir sicher, dass es ein Unfall war, obwohl du weißt, dass das nicht möglich ist, sich daran zu erinnern, die letzte Erinnerung eines von den Toten Auferstandenen ist der Moment des Gehirnscans, mehr geht nicht. Das haben sie dir gesagt. Unmöglich. Und schlagartig hast du deine Augen offen!
Und:
Irgendetwas ist ERSCHRECKEND (nur was?)!
Die fremde Frau, die deine Hand hält, Schwester?, Doktor?, sie trägt keinen Kittel, du siehst aus der Perspektive des Liegenden ein Frauengesicht hoch droben, unscharf, wegschwimmend, blinzel, Thomas, blinzel! Doch im Blinzeln fallen die Lider wieder in sich zusammen, mit jedem Lidschlag ändert sich die Farbe des Lichts ...
[Klack]
Grün ...
[Klack]
Rot ...
[Klack]
Blau ...
[Klack]
Die Augen implodieren, du implodierst, und dein Gesicht schrumpft wie ein zerstochener Ballon zusammen, du fällst aus dir selbst hinaus, raus aus dem Gesicht, raus, durch deine dir fremden Augen nach oben weg hinaus.
Dann: Du atmest, doch es ist nicht dein Atem.
»Leon, bitte schau mich an. Leon, du ... du hast es geschafft, du lebst, Leon ... Leon ...!« Es klirrt wie winterliches Eis in den oder deinen Ohren.
Was für eine absurde Verwechslung? Für wen hält die Stimme mich? Also gut, denkst du, also gut, schaue ich dich an, fremde Stimme, du öffnest die Augen und stellst fest, dass etwas nicht funktioniert damit, deswegen das Blinzeln, dein Sehen bleibt unscharf, das Gesicht, das zu dir spricht - trotz Blinzeln bleibt die fremde Frau eine unscharfe Frau, so sehr du auch deine Pupillen bemühst.
Doch eines ist sicher, das ist nicht Franka, das ist eine Fremde, die dich 'Leon' nennt, die deine (Leons?) Hand hält, die lange, dunkelbraune Haare hat, ein ovales Gesicht und vermutlich große Augen (man sieht nur ... du siehst nur die weich gezeichneten Flecken da, wo Augen sein sollten).
Das spontane Geräusch aus deiner Kehle, der Kehle an oder in dir, das ist so entsetzlich anders als das, was du erwartet hättest, es klingt so schräg, dass du das Spontane, diesen Stimm- oder Sprechautomatismus, gleich wieder zum Verstummen bringst. Dich zwingst. Ich zwinge mich, zu schweigen. Allein sich zwingen zu können hat etwas Beruhigendes. Dieser geschundene Körper ist mir noch nicht ganz entglitten.
Kontrolle.
Die Frau macht ebenfalls ein von innen kommendes Geräusch (von ihrem Innen), das beruhigen soll, und streichelt deine Prankenhand, und du beschließt, ganz nüchtern, es damit nun zu versuchen, die Hand der Stimme vorzuziehen, die Zehen haben schließlich funktioniert, also wagen wir die Hand!
Und es geht! Der Arm dreht sich, er gehört dir!, und die (deine!) Hand legt sich langsam, ganz, ganz langsam auf den Rücken, Finger, die sich einzeln und ebenso langsam, wie in Zeitlupe, unter Posaunen und Fanfaren öffnen wie auf einem michelangelischen Gemälde, und der Lärm, der dabei entsteht, entsteht nur in deinem Kopf. Denn taub ist das in Wahrheit, die Handfläche ist taub, die Finger, die zu bewegen sich beginnen, sind taub, man muss bei diesem Unfall deine Hände überfahren haben, ein Wunder, dass überhaupt was geht, und eine andere Hand, die noch fremder ist als diese (oder ist diese die fremdere?) legt sich in die deine hinein wie in eine Muschel, wie zum darin Schlafen, und diese deine Handmuschel schließt sich mit solch minutiöser Sorgfalt, dass für einige Sekunden das ganze Dasein sich auf das Zusammenkommen dieser ungleich fremden Hände beschränkt. Du schließt dafür sogar wieder die Augen, bist ganz im Fühlen der Hände, fühlst mit fremden Fingern die noch fremderen, bewegst heimlich auch die linke Hand, nur um sicher zu sein, dass auch hier alles funktioniert, ansonsten ist es einfach etwas Gutes, mit wem auch immer Menschlichem zu kommunizieren auf so innige Weise, bedenkend, dass du ganz offensichtlich dem Tod von der Schippe gesprungen sein musst. Und dann spürst du, wie die fremden Finger sich in deiner rechten Hand bewegen und an einem Ring drehen.
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