Und plötzlich beschleicht dich ein ganz anderes Gefühl. Eine Ahnung, warum das hier alles so schleppend geschieht. Warum du nicht atmest. Warum du nicht einfach erwachst und aufstehst und nach Hause fährst. Warum du das Gefühl hast, nicht mehr im Schlaflabor zu sein.
Schlaflabor? Welches Schlaflabor.
Verblassen von etwas, Ahnen von etwas anderem.
Bin ich tot?
Habe ich mich umgebracht? Die Frage steht im Raum, der Raum ist ein Traum ist ein Kinderreim, den ich nie gesungen habe, nicht mal kenne. Fremdes Kind? In mir? Oder ich in ihm? Nein, ich weiß doch, dass ich schlafe, ich träume, aber die Selbstmordfrage hat mich aufgeschreckt, aufgeweckt, sie hat dieses Plötzliche, dieses Siedendheiße, dieses Entsetzen, wenn dir auf einmal klar wird, dass nichts mehr so sein wird wie vorher! Dass ... zum Beispiel, dass da ein Kind fehlt. Und nicht mal wissen, welches? Ich habe gar keine Kinder! Oder man den Stick mit der Präsentation vergessen hat, wenn man bereits neben dem Beamer steht und einen alle ansehen, besonders, weil man es sowieso hasst, einen Entwurf zu präsentieren ... - habe ich mich umgebracht? Ich atme nicht! Ich atme nicht - ich atme! Ich atme nicht und doch zugleich, etwas atmet, etwas atmet mich, eine Maschine atmet mich, plötzliche, überwältigend große Angst, schiere Panik, symptomlose Panik, kein niemand, nichts, das zu Symptomen fähig wäre, ich entgleite mir, ich falle, Fall und
Aus ...
Später: Du erinnerst dich an diese Angst. An diesen Moment der Erkenntnis, von einer Maschine geatmet zu werden, bevor du dich wieder verloren hast, und es liegt schon wieder ZEIT dazwischen, du bist wieder eingeschlafen gewesen, das Gefühl JETZT ist ein anderes als während dieses panischen Erschreckens, das Gefühl jetzt ist ein nicht mehr so atemloses, körperloses, eher ein 'ich spüre, fühle, ich bin'. Nichts Erschreckendes also nun. Und obwohl Thomas die Augen geschlossen hat, ahnt er, dass es hell ist, und er stellt sich ziemlich realistisch vor, gleich in einem Krankenzimmer zu erwachen, möglicherweise angeschlossen an Geräte und eben eine Beatmungsmaschine, aber nichts, das wehtut, vielleicht noch nicht.
Ich atme.
Augen?
Geschlossene Augenlider schmecken bei Lichtverhältnissen süß, himbeersüß, und dann riecht er auch ein Geräusch, es ist das schon erwartete, das dazugehört, das gleichmäßig regelmäßige Aufblühen und Vergehen des Kümmelgeruchs eines EKGs, ich rieche meine Herztöne. Und gleichmäßig heißt, es scheint mir trotz allem gut zu gehen (aber trotz allem was?)! Man kann auch die Vögel riechen, von draußen, Frühlingszitronenschwaden, ich habe geschlafen wie ein Toter, und er fragt sich, woher er diesen Humor hat, angesichts dessen, was zu erwarten ist: Ein Erwachen zwischen Leben und Tod, mein Körper schwer angeschlagen, mit womöglich schrecklichen Ausfällen, fehlenden Gliedmaßen oder Lähmungen, die Aussicht, ein Krüppel zu bleiben! Aber ich habe mich nicht umgebracht. Das wäre unlogisch, und dann erinnert er sich auch (und endlich!), dass er sich hat scannen lassen, dass er ein Backup seiner Seele hat anfertigen lassen. Was nicht mehr Seele heißt, sondern Hirnscan. Ein kleines Vermögen, das er dafür bezahlt hat, unsterblich zu sein! Und das jetzt jeden Monat?
Atmen, das plötzlich schmerzt. Und wieder eine unerwartete Panikattacke: Ich bin gestorben, muss gestorben sein, ich erwache ganz offensichtlich nicht in dem Institut, ich bin nicht gerade eben gescannt worden, sondern weiß der Henker wann? Der Henker oder wer auch immer mich umgebracht hat. Nein, nicht ich habe mich, habe ich doch? Und dass ich hier liege und zu mir komme, langsam oder jetzt gerade viel zu schnell, das heißt doch - das heißt doch - das heißt doch - dass ...
ES FUNKTIONIERT!!!
Die Angst verwandelt sich in eine irre Freude, die genauso in dir explodiert wie die Angst, aufspringen wollen und brüllen vor Freude, was Thomas natürlich nicht tut, aber der Impuls, sich zu extrovertieren, der ist überwältigend. Es funktioniert!!! Es funktioniert bedeutet, dass - Trommelwirbel, Tusch - Thomas Vanderra von nun an ein Unsterblicher ist, meine Damen und Herren, sehen Sie hier den unsterblichen Thomas Vanderra, den Mann, der nie - nie nie nie mehr - sterben wird. Hyperventilierendes Freudenkonzert, atmen, Atmen tut weh! Obwohl mein Körper reglos bleibt, ist da ein Sturm aus Lachen und Jubeln in mir, ich könnte wen auch immer umarmen, die ganze Welt meinetwegen, oder auch: Franka.
Ernüchterung, plötzlich ist die Freude weg, so schnell, wie gekommen, Franka.
Ich weine.
Das Weinen geschieht genauso reglos und mit genauso wenig Kontakt zur Oberfläche, wie vorher Angst oder Freude. Ich weine nicht etwa in mich hinein, das hieße ja, das Weinen hätte einen Anfang und eine Richtung, aber so ist es nicht. Es geschieht einfach. Vielleicht geschieht es nicht einmal, sondern ist einfach da. Wie schon immer gewesen, ganz tief in mir drin. So tief, dass man es nicht räumlich lokalisieren kann. In diesem meinem Körper. So tief, dass ich mich stumm in den nächsten Schlaf weine. Franka. So ein Scheiß.
Ich erwache erneut und erinnere mich an die Erkenntnis, Thomas zu sein. Thomas Unsterblich, er war nur wieder eingeschlafen, nichts Besorgniserregendes, der Thomas oder der neue Thomas, noch immer weiß ich nicht, was geschehen ist, wie ich gestorben bin, ich spüre aber immer mehr meinen Körper zurück. Der sich noch fremd anfühlt, oder ungewohnt, aber das mag mit den Verletzungen zusammenhängen, die ich unweigerlich haben muss.
Ich gehöre zu denen, die es geschafft haben. Die der Unausweichlichkeit des Todes eine lange Nase machen. Meilenstein in der Geschichte der Menschheit, und was für einer, seit ein paar Jahren dürfen wir unsterblich sein, die letzte Bastion der Religion ist genommen, die Seele gehört nicht mehr diesem ominösen Gott, den wir uns im Angesicht des Todes ohnehin nur ausgedacht haben, sondern endlich uns! Die Seele, die Seele, ich ich ich, ich lebe! Gehört die Seele denn jetzt uns? Mir? Thomas erinnert sich, bevor er selbst den Vertrag unterschrieben hat, ein Kritiker der Reinkarnationsmedizin gewesen zu sein, und der Gesellschaft, die sie betreibt. Gehört die Seele statt Gott jetzt mir? Oder der Gesellschaft? Ach Thomas, was für unsinnige Fragen angesichts der freudentaumelnden Tatsache des buchstäblich nackten Überlebens, angesichts dieses meines Erwachens, dieser Erkenntnis, ich bin unsterblich, quod erat demonstrandum!
Thomas konzentriert sich in sich hinein, bergab sozusagen, aber nein, er vermutet, dass er liegt, also nicht bergab, sondern sozusagen rumpfabwärts. Und dass bei diesem inneren, mit geschlossenen Augen durchgeführten Forschen die Hände das Erste sind, was er hört. Nein, ich höre nicht, ich fühle! Höre? Greifenklang, ein Werkzeug spielen, die Finger sind der angeschwollene Gesang der Tuba, sie klingen zum Platzen prall, auf beider Hände Seiten, eine vorsichtige Bewegungsprobe - kaum mehr als ein Zucken - bringt Aufschluss: Ich habe laute Hände. Oder glaube, laute - ich meine: große Hände zu hören, nein, anders, großer Hände gewahr zu werden. Sie klingen, nein, liegen - eindeutig - auf Stoff. Die Bettdecke, die wie ein Kontrabass dröhnt, ist getrennt von meinem restlichen Resonanzkörper, durch ihre Schwere ertönt ein Körper, der sich anders anhört, als ich seine Lieder erinnere. Ich höre ihn - mich? - von außen, mit den Händen? Oder von innen, mit meinem Bewusstsein?
Ich bin ein Konzertsaal, offenbar, ich bin ein Riese. Geworden.
Wieder eine Panik, wieder Entsetzen, wieder wieder wieder, ich bin ein Riese ich bin ein Riese ich bin ein Riese ich bin ein Riese! Das ist nicht meine Musik, willst du schreien, will ich, ICH schreien, aber das wäre zu theatralisch, die Panik verfliegt, das ist lächerlich, albern, du bist albern, Thomas, sei froh, dass alles dran ist, dass da ein Rumpf brummt, der dir gehört, und Beine wie Posaunen, sogar die Trompetenfüße erschallen eindeutig lebendig! Du beruhigst dich, lässt die Augen zu und lauschst der sanften Melodie der Bettdecke auf den gekrümmten Zehen. Du spielst sie, diese Zehen, was geht, was sich anhört, nein, anfühlt wie tausend Jahre eingerostet, es knarzt und kratzt, aber es klingt. Du bewegst die Zehentonleiter rauf gegen die Decke, und wieder runter, wie ein Xylofon, erst alle fünf zugleich, dann getrennt, du schlägst den großen Zeh einzeln an, die kleinen im Quartett nach unten und umgekehrt und an beiden Füßen dasselbe Spiel. Warum höre ich meine Hände nicht mehr? Aber - als hätte nur wer auf diese Frage gewartet - da spielt ja eine Hand auf deiner!
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