Denkt Sylvie.
Und: Ich könnte mich jetzt ausziehen. Und stattdessen die Schürze anziehen, die weiße mit Rüschen, und sonst nichts, und mich von ihm ertappen lassen, beim Wedeln, beim Wedeln mit nacktem Hintern, sie stellt sich vor, sie hätte ihre Sachen bereits ausgezogen, sie wedelt weiter und in ihrer Fantasie wedelt sie auf diese Art wie nackt, immer weiter und weiter, was immer unsinniger ist, das Wedeln, weil doch alles längst staubfrei ist, aber das macht nichts, sie tanzt durch das kleine Musikzimmer, und in ihrer Fantasie kommt Leon nach Hause und kommt die Treppe hinauf und dann erwischt er sie in flagranti, und er bestraft sie dafür, ein bisschen, was natürlich kein Bestrafen ist, wie auch kein Erwischen, sie fantasiert sich ja ihn und keinen anderen, aber trotzdem hat es dieses wie Verbotene, dieses Erwischtwerden, und Bestraftwerden, und dann fesselt er sie, ans Bett oder überhaupt fesselt er sie, immer noch, immer wieder bin ich von dir gefesselt, und ich dich auch, wir zwei sind voneinander gefesselt, und manchmal darf auch sie ihn ans Bett fesseln, und ich muss dann Sachen mit dir machen, dann wird er zum Vulkan, und darum wedle ich nackt, nackt, nackt, sie kneift sich durch die Jeans in ihren Po, als wollte sie testen, ob das ein Nackttraum ist.
Ich könnte mich ja wirklich ausziehen, denkt Sylvie und lacht. Lacht, weil das albern ist, genauso wie es albern ist, jetzt nach links und rechts zu schauen, ob nicht doch jemand da ist, der, gesetzt den Fall, sie zöge sich aus, sie beobachten könnte. Sie schaut auch zum Fenster, und zum Fenster hinaus, aber da sind nur die Blätter der Ulme und keine Möglichkeit für den Nachbarn, zu ihr hineinzusehen. Trotzdem spürt sie an ihren Wangen, dass sie rot geworden ist, sie könnte sich hier ausziehen, und dann muss sie pinkeln vor lauter Erregung. Sie eilt ins Bad, setzt sich auf die Toilette und dann klingelt das Telefon.
Aber Sylvie kann nicht rangehen, so mittendrin.
Und wenn das Leon ist?
Sie kriegt einen Schreck, es klingelt weiter und darum singt sie dagegen an, wie ein Kind, das sich Mut ansingt im Dunkeln, singt irgendwas, etwas, das sie sich selbst ausgedacht hat, vielmehr beim Pinkeln jetzt gerade ausdenkt, und der Klang des Telefons mischt sich in ihre Komposition.
Es hört auf zu klingeln, und Sylvie denkt, dass Leon es hasst, wenn sie nicht rangeht, dafür hätten sie schließlich überall diese schnurlosen Dinger rumstehen! Er regt sich so schnell auf, besonders nach so einer langen Arbeitswoche, und dann denkt sie: Er kommt doch hoffentlich nicht später? Schon wieder mal? Nein, es ist Freitag, heute nicht, er wird angerufen haben, dass er nun losfährt, dann wären das noch zehn Minuten, noch zehn Minuten!, soll ich mich jetzt ausziehen oder nicht? Und nun ist sie ganz hin und hergerissen, ob sie sich ausziehen soll oder nicht, Leon müsste ja gleich da sein, und Lust, Lust hätte sie ja, und wie!
Stattdessen zieht sie sich an, fasst sich noch einmal an den Schlüpfer und drückt ihre Finger ein wenig hinein, ins Feuchte, dann schließt sie hastig die Knöpfe ihrer Jeans, ich muss ihn zurückrufen, er hasst das, wenn nicht, sie geht also hinaus, schaut sich im Flur wieder um, als wäre sie nicht allein, kichert sich selbst zu, ein bisschen nervös, und greift zum Telefon. Auf dem Display steht: Leon. Er war es, wie erwartet, ich ziehe mich also ganz schnell aus und die Schürze an, die hinten offen ist, das wird ihn ablenken vom Wütendsein, es wird ihn wild statt wütend machen, oder - nein - ich rufe ihn doch eben an. Besser ist das.
Sie drückt die Rückruftaste und hält sich das Telefon ans Ohr, es tutet, einmal, zweimal, und dann geht Leon ran.
»Ja!«, sagt er. Nicht 'Ja?', sondern 'Ja!'
Sylvies Herz klopft, und sie ist nicht schnell genug, etwas zu sagen.
»Sugar?«, sagte er, Sugar. Dabei ist seine Stimme noch immer gereizt, aber er bekämpft das. Man hört leise Fahrgeräusche.
»Kommst du?«, fragt Sylvie. Auch sie hat etwas Geladenes in ihrer Stimme. Aber das andere Geladene. Unwillkürlich.
»Sugar«, nochmals er, »ich dachte, wir könnten heute ins Kino, wo Hendrik doch bei seinem Freund übernachtet, vorher was essen gehen und ... weil ich doch morgen ...“
»Mein Löwe ...«, gurrt Sylvie und findet das ein bisschen sehr devot, am Telefon zu gurren. Sie hört das 'Kalack-Kalack-' des Blinkers.
»Ja ...?«, sagt er.
»Komm erst mal nach Hause, ja?«
»Ja, sure, Baby, ...«
Sylvie atmet tief, so tief, dass sie sich selbst im Hörer hören kann. Sogar in seinem Auto müsste man das hören.
»Kommst du?«, im Ausatmen.
»Ja Sugar, ich komme... was ... was hast du denn?«
»Nichts ...« Sex.
»Du bist ja wie auf ...« Jetzt hört sie ihn atmen. Und dass er Gas gibt, als würde er innerlich und äußerlich beschleunigen. Synchron. Und dann macht er: »Mhhh ...«
Sex.
Sylvie kichert: »Komm schnell ...«, sagt sie, mehr ein Seufzen, laut geflüstert und fast ohne Stimme.
»Holla ...«, auch seine Stimme plötzlich erregt, »Sugar, du kleines ... und ob ich komme, I'm coming, ich rase, ich werde dich glei... hhhh... Shit! SHIT!!!«
Entsetzen und undefinierbare Geräusche; es braucht nicht viel Vorstellungsvermögen, um sie als Bremsenquietschen und Aufprall zu interpretieren, ein lauter Knall und etwas wie Splittern oder Aneinanderstoßen, vielleicht sogar noch ein Schrei, aber undeutlich, und alles so schnell und die anschließende Stille so absolut, dass Sylvie nicht mehr weiß, was sie gehört hat.
Leon?
Als Thomas Vanderra eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, links und rechts einige Apparaturen, von denen Schläuche, Katheder und Kabel ausgingen und an unsichtbarer Stelle mit ihm verbunden schienen. Insbesondere aber sein Gesicht fühlte sich an wie verformt; von einer ungeordneten Ansammlung aus ihm herauskragender Mundwerkzeuge und Antennen, die ihm hilflos vor den Augen flimmerten.
»Was ist mit mir geschehen?«, dachte er. Es war kein Traum.
Eine fremde Welt betreten
Eine fremde Welt betreten. Sich einen Moment erzwingen, ein Beisichsein, wo nichts ist, als Sichverlieren. Eine fremde Welt, die mich träumen lässt, sie wäre ich.
Eine fremde Welt scheißen. Eine fremde Welt ausscheißen. Sie in Besitz nehmen, indem man sie oder sich in ihr vollscheißt. Darin schwimmen, wie ein Baby, in der eigenen feuchten, wunden Hitze.
Stelle sich mal einen Wurm vor, einen, zum Beispiel, Regenwurm, dem man das eine Ende zertreten hat, versehentlich, und dem man diese zertretene Hälfte abgetrennt hat, abgeschnitten mit einem Skalpell, und der innere Tunnel der gesunden Seite plötzlich wie an einem offenen Ende angekommen ist. Es ist der Moment, sich im Nichts zu verlieren, oder aber als Tunnel gerettet zu werden, indem man einen anderen aufgeschnittenen Wurm nimmt und an ihn andockt, sodass der offene Tunnel des ersten Wurms in den Tunnel des zweiten übergeht, und der erste Wurm sozusagen in dem zweiten weiterkriechen kann. Der Tunnel, das Hohle, ist ein Kriechen in der Zeit, der Tunnel, der sich selbst fortführt in vermeintlicher Kontinuität, der sich selbst in das neue Hohle hineinkriechend macht, das neue Leere gewissermaßen, er selbst ist das Nichts. Das, das fortgesetzt träumt.
Bin ich schon fertig? Bin ich fertiggeschlafen? Habe ich? Ein Film, am Ende, Schlussszene, zwei Männer und eine Frau, nackt, auf einem großen Bett, ach Franka, die Frau war schwanger und der Film ist von Tom Tykwer.
Warum aber erwache ich nicht, wenn ich doch fertig bin? Fertiggescannt. Warum entgleite ich mir immer wieder, ist es so schwer, aus der Tiefenhypnose wieder herauszukommen? Halbe Stunde, nicht länger, hat sie gesagt, die Assistentin, oder war es ein er?, oder wer? Keine zwei Stunden mit Film, du aber hast das Gefühl, schon ewig hier zu liegen. Nicht einmal das Atmen ist spürbar, nur dass immens viel Zeit vergangen ist oder vergeht.
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