„Scheiße“, sagte er, denn vor ihm stand die Witwe. Nur, dass sie jetzt gar nicht mehr traurig wirkte, sondern eher rasend vor Wut. Neben ihr standen außerdem der Fettsack von vorhin sowie einige andere Männer. Und es wurden zusehends mehr. Über ihre Schultern hinweg erkannte Pfeffer, dass sich im Saal Unruhe breit zu machen begann. Er wollte etwas sagen, irgendetwas, aber er brachte einfach nichts heraus. Schließlich war es die Witwe, die sich allerdings an die unbekannte Schönheit wandte und nun endlich das Schweigen brach. Jetzt weinte sie wieder, während sie die andere anschrie. „Wie kannst Du nur!“ Sie ohrfeigte die Unbekannte. Und noch mal „Wie kannst Du nur! Michaela, wirklich!“
„Aha“, dachte Pfeffer, „Michaela also!“
Aber die Witwe war noch nicht fertig.
„Dein Vater ist noch nicht mal eine Stunde unter der Erde. Und Du ... Du machst hier so was. Vor all den Leuten!“
Au Backe! Das konnte auch nur einem Rick Pfeffer passieren.
„Du bist Rebschlägers Tochter. Warum hast Du denn nicht bei den anderen in der ersten Reihe gesessen?“, entfuhr es ihm vor lauter Erstaunen in einer ähnlichen Lautstärke, wie jene, in der zuvor die Witwe geklagt hatte.
Die Frau, die nun Michaela hieß, patzte in einem Tonfall, der wohl eher ihrer Mutter galt: „Weil mich die ganze Scheiß-Familie am Arsch lecken kann!“, woraufhin sie sich noch eine schallende Ohrfeige von der Witwe einfing. Dies blieb jedoch beinahe unbemerkt, hatte sich doch die Aufmerksamkeit der umherstehenden Menge nach ihrem Ausruf Pfeffer zugewandt. Der Dicke machte den Anfang. Er konnte also doch sprechen.
„Ich glaube, Sie sollten hier mal schön die Schnauze halten und zusehen, dass Sie Land gewinnen. So eine verlogene Sau! Erst übern Jupp so rumschwafeln und ne halbe Stunde später fällt er über seine Tochter her!“ Und bei diesen wenigen Sätzen hatte sich der Dicke so in Rage geredet, dass er nicht mehr zu bremsen war. Sein ganzer beleibter Körper schien ihm Schwung zu verleihen als er ausholte und Pfeffer mitten eins in die Schnauze haute. Peng, voll auf die Zwölf. Das Nasenbein war hin, soviel war sicher. In Sekunden schossen ihm Tränen in die Augen und beraubten ihn abermals der Sehkraft. Außerdem sah er tatsächlich Sterne. Wer hätte das gedacht. Die Brille? Knirsch, Knack und nicht mehr zu gebrauchen.
„Heinz!“, herrschte die Witwe den Dicken an „jetzt mach das alles nicht noch schlimmer!“ Sie packte Pfeffer am Arm und sprach ihm direkt ins Ohr. „Und Sie verschwinden jetzt hier. Sofort. Und eins können Sie sich merken: das hier wird für Sie ein Nachspiel haben!“
Das hatte es.
Er hatte der Witwe nicht widersprochen und zugesehen, dass er möglichst schnell möglichst viele Kilometer zwischen sich und die Bauernkate brachte. Handschuhfach, Reservebrille, Vollgas. „Mann, Mann, Mann, da habe ich ja schön was angerichtet!“, sagte er im Auto zu sich selbst. Je weiter allerdings die zurückliegende Entfernung maß, die hinter ihm lag, desto mehr amüsierte ihn die ganze Angelegenheit. „Die Tochter. Ich hab’ echt die Tochter auf der Beerdigung von Ihrem Alten ... oh Mann!“ Und als er zu Hause ankam, war er bereits in ein herzerwärmendes Gelächter verfallen. Nur die Nase, die tat noch immer weh!
Das mit dem Gelächter änderte sich, als er am nächsten Morgen, noch bevor er sich anziehen konnte, einen Anruf aus dem Beerdigungsinstitut erhielt, in welchem der Inhaber ihm mitteilte, dass man sich aufgrund der Vorkommnisse bei der Bestattung Joseph Rebschlägers von ihm trennen müsse. Es tue ihm leid, aber sicher verstehe Pfeffer, dass gerade in einer emotional so intensiv aufgeladenen Branche ein solches Vorgehen nicht entschuldbar war. Wieder stellte der Inhaber keine unangenehmen Fragen und teilte Pfeffer alles in sachlichem und teilnahmslosem Duktus mit. Dann legte er auf. Pfeffer war nun auf einmal doch ziemlich konsterniert. Der Job war ihm völlig egal, aber was würde Müller machen, wenn er davon erfahren würde. Und er würde davon erfahren, da war sich Pfeffer ganz sicher. Wenn ein Geheimdienst eine Sache konnte, dann Dinge erfahren. Da machte denen keiner was vor. Und dann? Was wäre dann? Müsste er das Geld zurückzahlen? Würde Müller streng zu ihm sein? Eigentlich konnte er doch gar nichts dafür. Er war hier das Opfer! Diese Frau, Michaela, hatte ihn doch quasi abgeschleppt. Und dann hatte er auch noch eins auf die Nase bekommen. Obwohl das Nasenbein dann doch nicht gebrochen war, dafür aber in schönstem grün und violett schimmerte. Zugegeben, er hatte sich hinreißen lassen, aber wie es aussah, war er da doch in so etwas wie eine Familienfehde reingezogen worden. Außerdem hatte der Fette ihm – wie gesagt – einen ganz schönen Schwinger verpasst. Ob man dafür eigentlich Schmerzensgeld einklagen könnte? Und überhaupt: er hatte seiner Frau deswegen eine ganz schöne Räuberpistole auftischen müssen, damit sie nicht misstrauisch wurde. Was konnte er denn schon dafür? Er hatte seinen Job wahrscheinlich einfach mal wieder viel zu gut gemacht. Genau wie damals in Bremen.
Da er ja nun frei für heute hatte, ließ er das im Hausflur stehende Telefon zurück, um erst einmal ganz in Ruhe zu frühstücken. Danach würde er dann überlegen, was zu tun war. Wahrscheinlich sollte er Müller alles ganz sachlich erzählen. Von Mann zu Mann. Der würde schon Verständnis haben. Er ging vor die Haustür zum Postkasten, um die Morgenzeitung zu holen, das Weser-Land-Blatt natürlich, welches so drastisch an Qualität verloren hatte, seit er nicht mehr das Ruder in der Hand hielt. Neben der Zeitung allerdings lag ein einzelner Zettel, auf welchem nur stand:
„Sattelschlepper, 19:00 Uhr. HEUTE! H.M.“
„Das ist nicht gut.“ Sagte Pfeffer leise. Nun wurde ihm doch ein wenig flau.
V.
Im Sattelschlepper kam er pünktlich wie der sprichwörtliche Maurer an und bestellte diesmal einen Kaffee, obwohl er sich dereinst geschworen hatte, niemals nach 15:00 Uhr noch Kaffee zu trinken. Es machte ihn unruhig, und manchmal konnte er dann die ganze Nacht nicht schlafen. Außerdem schwitzte er auch so schon genug. Da er aber ohnehin schon unruhig und völlig durchgeschwitzt war und weil er außerdem nüchtern sein wollte, wenn er sich mit Oberleutnant Müller traf, verstieß er nun ausnahmsweise gegen seine Gewohnheiten. Er trank seinen Kaffee und bemerkte, dass er zitterte. Folge der Aufregung, dachte er sich. Oder des Alkoholismus. Oder beides. Oder etwas ganz anderes, von dem er lieber nichts wissen wollte. Er hatte andere Sorgen, da musste alles weitere hinten anstehen. Was würde er Müller sagen? Oder würde der ihn gar nicht reden lassen? Würde er wütend sein? Bestimmt würde er wütend sein! Es war noch gar nichts passiert und Pfeffer hatte schon die allererste Geschichte voll in den Sand gesetzt, weil er einfach nicht die Hose zulassen konnte. Oh Mann. Müller allerdings ließ erst einmal auf sich warten, was wiederum die Anspannung in Pfeffer noch vergrößerte. Tick-Tack-Tick-Tack machten die Zeiger seiner Armbanduhr und es kam ihm vor als würde sie bereits anfangen, rückwärts zu gehen, da kam der verspätete Agent endlich durch die Tür. Zwanzig Minuten nach der Zeit, das hätte er sich mal erlauben sollen. Pah. Und sowas ist ein Staatsdiener. Wahrscheinlich A13 oder sogar höher, dieser ... Pfeffer ärgerte sich, da fiel ihm ein, dass er gerade eben noch eher ängstlich gewesen war. Wieso noch gleich? Ach ja, wegen dieser anderen Sache. Also die Flak wieder heruntergekurbelt und Hundeblick aufgesetzt. Mit diesem sah er nun Oberleutnant Hans Müller zu, wie er sich langsam dem Tisch näherte und – Überraschung, Überraschung – so gar nicht aufgebracht oder missgünstig wirkte. Er lächelte sogar. Freundlich? Ja, ja, freundlich. Ganz der Konfident trug er exakt dieselbe Kleidung wie bei ihrem vorherigen Treffen, als er zu Pfeffer an den Tisch trat (das war ebenfalls derselbe wie beim letzten Mal), Mantel und Hut ablegte und sich zu ihm setzte. Keine Begrüßung, kein Händeschütteln. Gleich in die Vollen.
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