Musste wohl ein doller Typ sein, dieser Doktor. Mann, Mann, Mann, da muss man schon sagen. Und überhaupt. Zu seiner Linken fiel ihm eine Tür auf. Untersuchungsraum war darauf zu lesen. „Aha, da drin geht’s dann gleich zur Sache mit mir und dem Doktor“, dachte Pfeffer und hatte pubertäre Doppeldeutigkeiten völlig ausgeblendet. Er war viel zu sehr mit Sehen beschäftigt. Genauer: Staunen. Ehrlicher: Neiden. Zu seiner Linken erstreckte sich über beinahe die ganze Länge des Raumes ein in der Konstruktion schlichtes Bücherregal. Auch wieder weiß. Nur die Bücher darin, die meisten in einem Ledereinband, brachten Farbe und eine gewisse Asymmetrie in dieses geometrische Gesamtkonstrukt, das vom Boden bis unter die Decke reichte. Er ging zu dem Regal und las die Namen der Autoren auf den Buchrücken. Er kannte keinen davon.
Dann aber plötzlich: „Hah! Caesar! Kenn’ ich!“, er hatte dies laut gesagt und in seiner Stimme schwang ein gewisser Triumph mit, verlieh es ihm doch endlich mal ein bisschen Ebenbürtigkeit in diesem Raum. Er zog das Buch aus dem Regal, schlug die erste Seite auf und las . „Gallia est omnis divisa in partes tres, quarum unam incolunt Belgae..“, w eiter kam er nicht.
„Mist“, dachte er sich, „Latein!“, und stellte das Buch wieder zurück in das Regal, wobei er sich beinahe ebenso peinlich ertappt fühlte wie damals beim doppelten Bernd bezüglich seines nicht vorhandenen Hebraeicums.
Er suchte weiter die Buchrücken ab. „Cicero! Der aber!“, doch dann wieder: „ Si quis vestrum, iudices, aut eorum qui adsunt, forte miratur me ...“ „Verdammt noch mal, auch Latein“, sagte er, stellte auch dieses Buch zurück und suchte nun umso akribischer. Er fuhr die Buchrücken der Reihe nach mit dem Finger ab und wurde fündig.
„Thomas Mann! Na also! Der wird jawohl wenigstens noch deutsch schreiben, oder was!“ Er nahm das Buch heraus und las den Titel „ Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull “. Huch. Was war das denn? Irgendwie fühlte er sich schon wieder ertappt, obwohl er gar nicht genau wusste, warum. Er kannte das Buch nicht, beschloss aber, es irgendwann zu lesen und stellte es sorgsam zurück. In diesem Moment öffnete sich vorwarnungslos die Tür und ein Mann trat ein. Pfeffer war sich aus zwei Gründen sofort sicher, dass es jener Mann sein musste, dem der Sessel auf der anderen Seite des Schreibtisches gehörte. Erstens und ganz banal: wer sollte es sonst sein. Aber zweitens: Herein kam ein Mann, etwa seine Größe, ein wenig jünger vielleicht, aber mit einer deutlichen Präsenz. Vielleicht Charisma? Bestimmt Charisma. Passte auf jeden Fall zum Büro, der Typ. Er hatte eine schmalgliedrige Statur, fast ein wenig leptosom, leicht schütteres Haar und durch die feine, randlose Brille traf Pfeffer ein wacher Blick. Der weiße Kittel mit dem Pieper und den vielen Stiften war natürlich beeindruckend und Pfeffer merkte, wie er sofort Haltung annahm.
„Na, haben Sie etwas Interessantes gefunden?“, sprach ihn der Arzt nun jovial an, während er auf ihn zuging und ihm die Hand reichte.
„Ich verstehe nicht, ich ...“ Pfeffer fühlte sich schon wieder ertappt.
„Na, die Bücher! Haben Sie was gefunden, das Sie interessiert?“, er war mittlerweile ganz nah und schüttelte ihm die Hand.
„Bartholdy, Clemens Bartholdy, angenehm“, sagte der Arzt und ohne, dass er überlegte, entfuhr es Pfeffer:
„Sind Sie kein Doktor?“
Der Arzt musste lachen.
„Ich bin sogar Doktor Doktor! Aber das können Sie ruhig weglassen, das sind nur Titel.“
Jetzt holte Pfeffer seinerseits die Begrüßung nach.
„Pfeffer. Rick, also Richard Pfeffer. Freut mich auch, Herr Doktor, sehr angenehm. Ich habe das wegen der Lebensversicherung, also, ich muss ... Was ich meine ist: Dass Sie überhaupt noch so einen einfachen Check-Up für mich machen, das ist aber aller Ehren wert, Herr Doktor. Oder sagt man Herr Doktor Doktor? Also, ich, ich bitte um Entschuldigung.“ Pfeffer merkte plötzlich, dass er versuchte, dem Arzt zu schmeicheln. Das war ihm peinlich. Und auch sein Gestammel.
„Ach was, hören Sie auf. Auch der Zimmermannsmeister muss ab und an mal wieder einen Nagel durch den Balken treiben, nicht? Sonst verlernt er noch am Ende sein Gewerk! Wie sagten Sie, heißen Sie gleich noch?“ Er besah das Klemmbrett, das er mit sich hereingebracht hatte.
„Richard Pfeffer.“
Dr. Bartholdy schaute ihn an, und da plötzlich ... nein, doch nicht. Pfeffer war so, als würde sich gerade etwas von der Präsenz und dem Charme des Doppeldoktors verabschieden. Dann aber war er von einer Sekunde auf die andere wieder völlig hergestellt. Merkwürdig. Aber wahrscheinlich eine Sinnestäuschung. Immerhin hatte Rick Pfeffer nun schon seit sieben Tagen keinen Alkohol getrunken. Er beschloss, dass er wohl halluziniert hatte. Kann schon mal passieren, wenn man nüchtern ist. Nun aber wieder der Arzt.
„Und weswegen genau sind Sie hier bei mir?“
Naaa ... Doch. Doch, da war was. Er hatte nicht halluziniert. Eigentlich eine gute Nachricht. Irgendetwas schien den Arzt zu beunruhigen. Pfeffer setzte sich auf einen der Stühle frontseits des Schreibtisches.
„Ich möchte mich durchchecken lassen. Für eine Lebensversicherung“.
Die Augen des Arztes verrieten eine Mischung aus Skepsis und Verunsicherung. Und bei Pfeffer: Jagdinstinkt. Fährte aufgenommen. Wie in den guten alten Zeiten. Was war hier los? Was stimmte hier nicht? Hatte er etwas Falsches gesagt? Oh Gott, womöglich etwas Schwules? Grübel grübel. Nein, definitiv nichts Schwules. Es musste also etwas anderes sein. Hatte es mit den Büchern zu tun? Kam ihm der Arzt nicht irgendwie bekannt vor? Ein Sozi vielleicht? Aus Bremen? Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden. Wirkung vor Deckung. Wie in der guten alten Zeit.
„Haben Sie mal in Bremen praktiziert, Herr Doktor?“
„In Bremen?“ Bartholdy wurde jetzt tatsächlich nervös „Nein, nie in Bremen. Wieso wollen Sie das denn wissen?“
„Ich weiß auch nicht. Ich glaube, wir sind uns schon einmal begegnet. Waren Sie sonst schon mal irgendwann in Bremen?“ Pfeffer war jetzt ganz im Suchmodus des Redaktionspfadfinders.
„Nun, gut möglich, ja, mit Sicherheit war ich schon einmal dort. Vielleicht bei einem Kongress. Aber was soll denn diese Fragerei, Herr Pfeffer. Eigentlich ist das doch meine Aufgabe, oder? Ich meine, deswegen sind Sie doch hier. Also. Wollen wir loslegen?“ Er versuchte verkniffen zu lachen und stand auf, wohl um die Untersuchung nun beginnen zu lassen. Pfeffer jedoch ließ nicht locker, und jetzt war er sich sicher. Irgendwo hatte er diesen Arzt schon einmal gesehen. Aber wo? Und wann? Ärzte, Ärzte, Ärzte. Verflixt noch eins, es wollte ihm nicht einfallen. Er hatte nie mit Ärzten zu tun gehabt. Also abgesehen von den Krankschreibungen wegen schweren Vollrauschs. Aber wenn Bartholdy nie in Bremen praktiziert hatte, dann konnte er ihn schwerlich daher kennen. Bartholdy, Bartholdy, komischer Name. Den hätte er sich bestimmt gemerkt. Nein, es musste irgend etwas anderes sein. Also nochmal die Lupe raus und ganz genau hingesehen. Statur, Gesicht, Augen, Kinn, Frisur, da war doch was, da war doch was da war ... DAS WAR ES! Die Trauerfeier. Rebschläger. Eins auf die Nase. Rückwärts, rückwärts. Komm schon Pfeffer, weiter zurückspulen. Besenkammer, Tresen. Zack! Der Name. Der Name, den er so angestrengt gesucht hatte. Der erste Gedanke: Hab ich Dich! Der zweite: Jetzt aber auch voll auskosten! Erstmal Kreuzverhör. Ach, das wird ein Fest! Er stand auf und ging langsamen Schrittes durch den Raum, während er sprach.
„Sie waren also nie in Bremen.“
„Sagen Sie, was soll denn das?“, entgegnete Bartholdy nun merklich angespannt.
„Und Ihr Name ist Dr. Dr. Clemens Bratholdy.“ Pfeffer stand nun wieder vor dem Bücherregal.
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