E. T. A. Hoffmann
Der goldne Topf
Lektüreschlüssel XL
für Schülerinnen und Schüler
Von Martin Neubauer
Reclam
Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgabe:
E. T. A. Hoffmann: Der goldne Topf . Hrsg. von Heike Wirthwein. Stuttgart: Reclam, 2016 [u. ö.]. (Reclam XL. Text und Kontext, 19233.)
Diese Ausgabe des Werktextes ist seiten- und zeilengleich mit der in Reclams Universal-Bibliothek Nr. 101.
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2., durchgesehene Ausgabe
Lektüreschlüssel XL | Nr. 15470
2017 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2019
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961784-8
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015470-0
www.reclam.de
Abb. 1: Umspringbild: Salvador Dalí, Studie zum Sklaven- markt. – © Salvador Dalí. Fundació Gala – Salvador Dalí / VG Bild-Kunst, Bonn 2017.
Mit Vexier- oder Umspringbildern kann man in der Psychologie die Eigenarten des Gesichtssinns bei der Erfassung der Umwelt demonstrieren. Ein und dasselbe Bild erscheint einem einmal als Vase, das andere Mal als zwei einander zugewandte Gesichtsprofile – doch nie kann man beide Darstellungen zusammen wahrnehmen. Auch in die bildende Kunst haben solche optischen Täuschungen Eingang gefunden, etwa beim katalanischen Surrealisten Salvador Dalí: In der hier abgebildeten Studie erscheint der Durchgang zu einem orientalischen Sklavenmarkt auf einmal als Büste des französischen Philosophen Voltaire.
Ebenso ist E. T. A. Hoffmanns 1814 veröffentlichtes Märchen Der goldne Topf ein Der goldne Topf , ein literarisches UmspringbildUmspringbild, freilich ein literarisches, denn man kann es auf mehrerlei Art lesen. »Ein Märchen aus der neuen Zeit« verkündet der Untertitel, und als solches weist sich die Erzählung schon durch ihren Inhalt aus: Von einem Magier wird da berichtet und von seiner Feindin, einer Hexe; von Verwünschungen, wunderbaren Verwandlungen und Verzauberungen ist die Rede, von Salamandern und Erdgeistern, von verführerischen Schlangen und einem sprechenden Türklopfer, einem Zaubergarten und natürlich von einem goldenen Topf. Und am Schluss löst sich alles in einem Happy End auf, wie es sich für ein Märchen eben gehört.
Oder doch nicht? Muss man die ganze Geschichte wirklich ernst nehmen? Ist das, was den Figuren widerfahren ist, in Wirklichkeit nur Einbildung gewesen? Hat es sich bei all dem Wunderbaren in Wahrheit nur um Sinnestrug gehandelt? Hoffmanns Märchen spielt nicht im unbestimmten Irgendwo, sondern im zeitgenössischen Dresden, in einer aufgeklärten Zeit, die das Phantastische mit der Hilfe des Verstandes zu entzaubern versucht, in der die Welt von der Vernunft her gedeutet wird.
Alles ist logisch erklärbar – und auch wiederum nicht. Und so bleibt am Ende die Frage offen, was man eigentlich gelesen hat: tatsächlich ein Märchen oder die Geschichte eines Menschen, der sich in einem Märchen wähnt. Das Irritierende daran ist, dass der Autor Hoffmann darauf keine eindeutige Antwort gibt, vielmehr alles in der Schwebe lässt. Der Text bleibt offen für mehrere Lesarten – so wie ein Umspringbild nicht nur ein einziges Bild in sich vereinigt.
All das lässt vielleicht eine schwer verständliche Geschichte vermuten. Tatsächlich hat Der goldne Topf bis heute zahlreiche Interpreten zu Vielschichtigkeitunterschiedlichsten Stellungnahmen angeregt – doch sollte man sich davon als Leser nicht einschüchtern lassen: So wie ein Vexierbild vergnüglich anzusehen ist, so ist auch Hoffmanns Märchen dank seiner sprühenden Einfälle und der darin waltenden Ironie bis heute eine lohnende, unterhaltsame Lektüre geblieben – nicht trotz, sondern eben wegen seiner Vielschichtigkeit.
Erste Vigilie:Der Student Anselmus ist ein rechter Tollpatsch und Pechvogel, stolpert er doch vor dem Schwarzen Tor in Dresden aus lauter Ungeschicklichkeit in den Äpfel- und Kuchenkorb eines alten Marktweibes. Das ruft dem Davoneilenden seltsame Worte nach: »Ja renne – renne nur zu, Satanskind – ins Kristall bald dein Fall – ins Kristall!« (S. 5).
Anselmus zieht sich an eine abgeschiedene Stelle nahe der Elbe zurück, wo er, unter einem Holunderbaum Pfeife rauchend, seine bisher durchlittenen Unglücksfälle Revue passieren lässt und unerfüllbaren Karriereträumen nachhängt. Anselmus begegnet SerpentinaPlötzlich geschieht etwas Wunderbares: Er vernimmt in der Einsamkeit liebliche Klänge und geheimnisvolle Worte, und im Baum erspäht er drei kleine grüngoldene Schlangen. Eine davon fesselt ihn mit ihrem zutiefst irritierenden, hypnotischen Blick. Mit dem Untergang der Sonne lässt eine raue Stimme aus der Ferne den zauberischen Spuk jäh verschwinden.
Zweite Vigilie:Anselmus, von einer promenierenden Bürgerfamilie dabei überrascht, wie er gerade mit dem Holunderbaum spricht, ergreift peinlich berührt die Flucht und Anselmus begegnet Veronika Paulmanntrifft zufällig auf den mit ihm befreundeten Konrektor Paulmann, der in Begleitung seiner beiden Töchter sowie des Registrators Heerbrand am Elbufer unterwegs ist. Gemeinsam setzt man über den Fluss, da glaubt Anselmus, im Widerschein eines nächtlichen Feuerwerks die goldenen Schlänglein im Wasser zu erkennen, und geht vor Aufregung fast über Bord. Das seltsame Verhalten des Studenten liefert der kleinen Gruppe Gesprächsstoff über die rationale Erklärung von Wachträumen.
Der Einladung ins paulmannsche Haus Folge leistend, begleitet Anselmus die ältere Tochter des Hausherrn, die hübsche Veronika, auf dem Klavier. Der Konrektor und der Registrator machen Anselmus das Angebot, beim Archivar Lindhorst, einem alten, verschrobenen Gelehrten, Manuskripte zu kopieren.
Es scheint, als sei die Unglücksserie unterbrochen. Doch als sich der Student am folgenden Mittag bei seinem neuen Brotherrn vorstellen möchte, bemerkt er mit Entsetzen, dass sich der Klopfer an dessen Haustür vor seinen Augen in die Fratze des alten Äpfelweibs und die Klingelschnur in eine Würgeschlange verwandelt. Anselmus verliert das Bewusstsein und erwacht zu Hause in Gegenwart seines besorgten Gönners Paulmann.
Dritte Vigilie:Im Laufe des Kapitels erfährt man, wie sich der Vorfall aus der Sicht des Konrektors zugetragen hat. Ein altes Äpfelweib habe sich bereits um den besinnungslosen Anselmus begegnet dem ArchivariusAnselmus gekümmert, als ihn der zufällig vorbeikommende Paulmann vor dem Haus des Archivars vorfand. Der Konrektor und der Registrator beschließen, für den Abend in einem Kaffeehaus ein Treffen zwischen dem Studenten und dem Archivar Lindhorst zu arrangieren.
Dieser entpuppt sich als recht seltsamer Zeitgenosse, der mit seinen märchenhaften, aber ernst gemeinten Geschichten über seine Familie die versammelte Runde unfreiwillig in ungläubige Heiterkeit versetzt: So sei er selbst niemand anderer als ein Abkömmling einer königlichen Feuerlilie, der sich am Totenbett seines Vaters vor 385 Jahren mit seinem Bruder zerstritten habe, welcher bis heute in Gestalt eines Drachens in der Gegend von Tunis über einen geheimnisvollen Edelstein wacht. Trotz des merkwürdigen Eindrucks, den Lindhorst nicht nur deswegen auf ihn macht, beschließt Anselmus, tags darauf bei ihm unter allen Umständen vorstellig zu werden.
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