Liest man den Goldnen Topf als Märchen, so gewinnt Veronikas vorerst so positiv anmutende Gestalt etwas andere Konturen. Veronika als Teil der PhilisterweltImmerhin ist sie Teil der Philisterwelt, in deren engen Grenzen sie ihr Glück sucht. Zwar ist sie eine Träumernatur wie Anselmus, doch kreisen ihre Wünsche bloß um Ehering und Amtstitel – verhältnismäßig dürftige Ziele für jemanden wie ihren Geliebten, der teilhaftig werden darf an der Welt der Elementargeister und des Übernatürlichen. Veronikas kleinbürgerlicher Horizont ist zu eng gezogen – sie ist heillos mit dem überfordert, was da an Phantasie und Poesie über sie hereinbricht. Und so überlässt sie sich den magischen Künsten der alten Hexe, der Rauerin, in der Hoffnung, dass für Anselmus doch noch die bürgerlichen Glücksvorstellungen maßgeblich werden könnten.
Tatsächlich gewinnt die philiströse Alltagswelt in der neunten Vigilie vorübergehend Gewalt über den Studenten. Veronika vermag Anselmus dazu zu bewegen, zu seinen Träumereien und zu sich selbst auf rationale Distanz zu gehen (vgl. S. 75), und ringt ihm sogar ein Heiratsversprechen ab (vgl. S. 75). Letztlich ist all das aber nur eine Verzögerungstaktik des Erzählers, denn das Happy End eines Märchens wie des Goldnen Topfs kann nur eines sein, in dem sich der Held für ein Glück entscheidet, das eben nicht im Bürgerlichen liegt und in dem schließlich die Phantasie den Sieg davonträgt.
Je nachdem, wie man das liest, was Anselmus widerfährt, ergeben sich unterschiedliche Einschätzungen von Veronikas Funktion – mit anderen Worten: ob man die Geschichte aus der Perspektive des Märchens versteht oder eine realistischere Lesart anwendet. Im Kontext eines Märchens ist Veronika eine Figur, die Anselmus das Reich der Träume abspenstig machen möchte, ihn zum Verrat an der Phantasie bewegen und zum Philister machen will – eine Verführerin also.
Zur genau entgegengesetzten Einschätzung muss man kommen, liest man die Geschichte des Anselmus als die Geschichte eines Menschen, dessen Dasein zunehmend von Weltfremdheit und Isolation bestimmt ist. Rettung vor dem WahnsinnAllein Veronika scheint dazu imstande zu sein, den Studenten von seinen Verirrungen zu heilen und ihm einen Platz im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft zuzuweisen. Eine solche Lektüre weist Veronika nicht die Funktion einer Verführerin zu, sondern die einer Erlöserin: »[D]er Anselmus ist verstrickt in wunderliche Bande, aber ich erlöse ihn daraus und nenne ihn mein immerdar« (S. 46).
Der Glaube an die rettende Macht der Liebe ist dabei nicht ohne religiöse Färbung, wurde doch Anselmus immerhin von einer Schlange verführt, so wie Eva im Paradies. Freilich polt sich dieser Akt der Verführung wiederum in einen Akt der Erlösung um, liest man die Geschichte von der anderen Seite her, nämlich von der des Märchens – da wird Serpentina gleichsam in den Rang einer Schutzpatronin erhoben: »[H]ast du bewährten Glauben und wahre Liebe, so hilft dir Serpentina!« (S. 65).
Egal, aus welcher Perspektive man Veronikas Lebensgeschichte betrachtet, Happy End im Bauernglücksie findet in jedem Fall ihr Glück – zwar nicht so, wie ursprünglich erträumt, an der Seite ihres Anselmus, aber immerhin als Hofratsgattin. Damit hat sich ihr ureigenstes Phantasiegespinst glücklich ins Reale gewandelt: Was an Wundersamem stattgefunden hat, wird vom Bräutigam Heerbrand ins Allegorische aufgelöst, so dass alles Phantastische in der Rückschau bloß als Produkt überreizter Laune erklärbar ist. Veronikas Glück im biederen Idyll ist erst dann möglich, als Anselmus, für eine bürgerliche Beglückung ohnehin unfähig, aus der Geschichte verschwunden ist.
Abb. 3: Veronika und Serpentina: Funktionen je nach Lesart
Serpentina: Schlangenhafte Doppelgängerin
Eigentlich müsste schon der Name der zweiten weiblichen Bezugsperson von Anselmus zu denken geben: Serpentina ist von serpens , dem lateinischen Wort für »Schlange«, abgeleitet – und eine Schlange entspricht nach der biblischen Vorstellung und der gängigen Alltagsmetaphorik nur zu gut dem Bild einer hinterlistigen Verführerin. Sie rührt dermaßen an Anselmus’ Sehnsüchten, dass er jegliche Selbstbeherrschung verliert und durch sie in »wahnsinnige[s] Entzücken« (S. 33) gerät. Ein »schnöder unchristlicher Name« (S. 35) also, der Unlauteres markiert – oder doch nicht?
Auffällig ist, dass das Mädchen aus der Feenwelt Ähnlichkeiten mit ihrem bürgerlichen Gegenstück Veronika besitzt – eine klare Stimme, die wie eine Kristallglocke klingt (vgl. S. 10, S. 17), sowie blaue Augen (vgl. S. 10, S. 21). Beide Frauen wirken wie zwei Seiten desselben Wesens: eine Variante des bei Hoffmann so häufigen Doppelgängermotivs also – und Doppelgänger stehen bei E. T. A. Hoffmann üblicherweise im Zusammenhang mit psychischem Ungleichgewicht und außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen. So vermengen sich die Bilder der beiden in Anselmus’ Kopf, wenn ihm Veronika beim gemeinsamen Umtrunk ein Glas Punsch serviert (S. 76) und plötzlich die Gestalt Serpentinas und ihrer Welt vor seinem geistigen Auge aufsteigt: Handelt es sich dabei um ein Phänomen, das sich aus dem Reich des Wunderbaren herleitet, oder schlicht um Benebelung durch allzu viel Alkoholkonsum?
Wenn der Anselmus des Märchens am Ende seine Erlösung erfährt, so trifft dies auch für Serpentina zu, mit der er sich schließlich in Liebe vereinigt. Hat sie sich anfangs noch smaragdgrün und schlangenartig durch die Erzählung bewegt, so streift sie letztlich vor der Harmonie einer romantisch beseelten Naturkulisse alles Reptilienhafte von sich ab und erscheint »in hoher Schönheit und Anmut« (S. 100). Als Verkörperung des Wunderbaren als Tatsache repräsentiert sie letztlich auch die Poesie, zu der sie unter Lindhorsts Mitwirkung den Studenten hinführt.
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