Ingeborg Bachmann
Der gute Gott von Manhattan
Lektüreschlüssel XL
für Schülerinnen und Schüler
Von Joseph McVeigh
Reclam
Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgabe:
Ingeborg Bachmann: Der gute Gott von Manhattan . Hörspiel . München: Piper, 42019.
Lektüreschlüssel XL | Nr. 15513
2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2020
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961554-7
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015513-4
www.reclam.de
Autorin |
Ingeborg Bachmann (1926–1973), österreichische Schriftstellerin |
Erstsendung |
29. Mai 1958 (Ursendung im Bayerischen Rundfunk, Norddeutschen Rundfunk und Südwestfunk); erste Druckfassung 1958 |
Gattung |
Hörspiel |
Ort und Zeit der Handlung |
Erzählt wird eine Liebesgeschichte im Sommer 1955 in der amerikanischen Großstadt New York. Die Schauplätze sind verschiedene Orte in der Stadt (Grand Central Bahnhof, Central Park, Atlantic Hotel) sowie ein Gerichtssaal in der Stadt. |
Werkaufbau |
Das Hörspiel ist nicht in Akte unterteilt, sondern besteht aus einer lockeren Folge von Szenen, die abwechselnd im Gerichtssaal und an den verschiedenen Orten, wo sich das Liebespaar aufhält (Hotelzimmer, Bar, im Park), spielen. |
Erzählperspektive |
Die Handlung wird abwechselnd aus der Perspektive der Titelfigur, des guten Gottes, und derjenigen der jungen Menschen Jan und Jennifer gezeigt. Die Aussagen des guten Gottes und die vom Richter vorgelesene Gerichtsakte in einem Gerichtsverhör bilden den Rahmen der Handlung, die die Liebesbeziehung zwischen Jan und Jennifer bildet. |
Handlung |
Ein Angeklagter steht zum Verhör vor einem Richter. Die beiden kennen sich schon, da sie sich vor einiger Zeit in einem ähnlichen Fall – einem Bombenattentat auf ein junges Liebespaar – im Gerichtssaal begegnet sind. Der Tatbestand ist klar: Der Angeklagte, der unter dem Spitznamen »Der gute Gott von Manhattan« oder »Der gute Gott der Eichhörnchen« bekannt ist, wurde am Tatort gefasst und leugnet die Mordtat nicht. Mit Hilfe seiner tierischen Handlanger, der Eichhörnchen Frankie und Billy, verfolgt er Liebespaare, die die gesellschaftlichen Konventionen solcher Beziehungen nicht beachten und somit die Grenzen des normalen Zusammenlebens zu sprengen drohen. |
Das Verhör des guten Gottes bildet den Rahmenhandlung im GerichtssaalRahmen der zentralen Handlung, einer Liebesgeschichte mit tragischem Ende zwischen dem jungen Europäer Jan und der amerikanischen Studentin Jennifer. Sie begegnen sich im Zentralbahnhof von New York und verbringen zusammen fünf Tage in der Stadt. Aus dem, was als sexuelles Abenteuer beginnt, wird plötzlich etwas mehr. Aber Jan hat schon eine Schiffskarte für die Rückreise nach Cherbourg gelöst und wartet nur noch auf die Bestätigung seines Platzes auf dem Schiff. Die Affäre soll also von vornherein eine »Vereinbarung auf Distanz« (S. 37) sein. Doch zwischen den beiden entwickelt sich eine immer intensiver werdende, sich steigernde Liebe, was durch den Umzug in immer höhere Stockwerke des Hotels symbolisiert wird: vom Erdgeschoss ins 7. Stockwerk, dann ins 30. und schließlich ins 57. Stockwerk des Atlantic Hotels.
Die zentrale Die zentrale Handlung des StücksHandlung des Hörspiels, die Liebesgeschichte, wird eigentlich in die innere Welt der Empfindungen verlegt, in der die Vertiefung und Stärkung der Beziehung verfolgt wird. Der manchmal lyrische Charakter des Dialogs zwischen Jan und Jennifer erschwert die Auslegung der hier ausgedrückten Gefühle, hat aber die deutliche Absicht, die »neue[ ] Sprache« (S. 85) einer absoluten ekstatischen Liebe wiederzugeben.
Die Schauplätze und Bilder aus der Metropole New York und »The American Way of Life«New York lassen offensichtlich werden, dass das Hörspiel in den Worten der Autorin »ohne die Amerika-Reise nicht zu denken« war, die Bachmann im Sommer 1955 unternahm.1 Und im Verlauf der Liebesgeschichte bekommt der Leser einen Einblick in die moderne Weltordnung, für die die Metropole New York als Symbol steht. Als Befürworter dieser Ordnung malt der gute Gott in seinen Aussagen vor dem Richter das Bild einer gnadenlosen modernen Welt, deren Regeln den Menschen ein konformes Leben abverlangen und die ihnen als Belohnung hierfür die Erfüllung aller materiellen Bedürfnisse verspricht. Dieses Bild basiert in vielem auf dem »American Way of Life«, mit dem Bachmann sich im Sommer 1955 in Boston (USA) als Teilnehmerin am Harvard International Summer Seminar intensiv beschäftigte. Konsum, Gewinn, Konformität und das Nützliche als Maßstäbe des gesellschaftlichen Lebens bilden in dem Stück die Hauptmerkmale der von den USA geprägten neuen Weltordnung nach dem Zweiten Weltkrieg, obwohl solche Eigenschaften auch früher im 20. Jahrhundert mit Amerika verbunden wurden.
In ihrer Darstellung einer tragisch endenden Liebesgeschichte stellt Bachmanns letztes Hörspiel die gesellschaftlichen Zwänge in Frage, die die individuelle Freiheit radikal einschränken. Insofern nimmt dieses Werk den sozialen Umbruch der 1960er Jahre vorweg, in dessen Mittelpunkt die Spannung zwischen Individuum und Anpassung an gesellschaftliche Konventionen stand.
Die zentrale Handlung des Hörspiels, die Liebesbeziehung zwischen Jan und Jennifer, spielt sich über fünf Tage in der Stadt New York ab, und zwar hauptsächlich im Stadtteil Manhattan, dessen Name auf den indianischen Ausdruck manna-hatta zurückgeht und ›himmlische Erde‹ bedeutet.
Das Verhör und der Angeklagte
Im Gerichtssaal (S. 7–15):Die Eröffnungsszene der Handlung spielt im Sommer 1955 in einem Das Verhör beginntGerichtssaal in der Stadt New York, wo ein Angeklagter vor einem Richter über einen Mord aussagt, den er an einer jungen amerikanischen Studentin verübt haben soll. Der Dialog zwischen dem Richter und dem Angeklagten ist mehr Gespräch als Verhör, da der Angeklagte, der seine Schuld keineswegs leugnet, nicht zum ersten Mal vor dem Richter steht. Er war bereits früher ein Verdächtiger in anderen Fällen von Bombenattentaten und galt unter den gerichtlichen Psychiatern als wahnsinnig. Der Richter lehnte diese Diagnose jedoch ab, als er den Angeklagten kennenlernte. Nun entnimmt er den Akten, dass der Angeklagte allgemein als »[d]er gute Gott von Manhattan« oder »der gute Gott der Eichhörnchen« (S. 10) bekannt ist und über Hunderte solcher Nagetiere in der Stadt verfügt. Der gute Gott nennt die Tiere »mein[en] Nachrichtendienst, die Briefträger, Melder, Kundschafter, Agenten« (S. 11). Sie werden von den Tieren Frankie und Billy angeführt. Am Ende dieser Szene fängt der gute Gott an zu erzählen, wie die beiden jungen Menschen, der europäische Student Jan und die amerikanische Studentin Jennifer, zueinanderfanden. Den Übergang zur nächsten Szene bilden anonyme Stimmen » ohne Timbre, ohne Betonung, klar und gleichmäßig « (S. 15), die eine Reihe kurzer Sätze aus dem Alltag, der Werbung, der Politik usw. sprechen, die jedoch keinen Zusammenhang ergeben. Darunter befinden sich auch kurze Sätze, die als Mahnungen an Jan und Jennifer verstanden werden könnten: »DENK DARAN SOLANGE ES ZEIT IST« oder »DU KANNST ES NICHT HALT!« (S. 15). Durch das ganze Hörspiel hindurch werden diese beiden Sätze von den Stimmen wiederholt.
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