Ödön von Horváth
Geschichten aus dem Wiener Wald
Lektüreschlüssel XL
für Schülerinnen und Schüler
Von Sascha Feuchert
Reclam
Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgabe:
Ödön von Horváth: Geschichten aus dem Wiener Wald. Hrsg. von Holger Bäuerle. Stuttgart: Reclam, 2019 (Reclam XL. Text und Kontext, Nr. 19436).
Diese Ausgabe des Werktextes ist seiten- und zeilengleich mit der in Reclams Universal-Bibliothek Nr. 18613.
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Lektüreschlüssel XL | Nr. 15509
2019 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2019
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961527-1
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015509-7
www.reclam.de
Auf den ersten Blick mag erstaunen, dass Ödön von Horváths wohl bekanntestes Drama Aktualitätnoch immer ein Dauerbrenner auf deutschsprachigen Bühnen ist, behandelt das Stück doch Themen, die erst einmal nur von historischem Interesse zu sein scheinen: Im Mittelpunkt stehen schließlich spießige und gleich in mehrfacher Hinsicht ›dumme‹ Kleinbürger, die offensichtlich mit zeittypischen Problemen der ausgehenden 1920er, beginnenden 1930er Jahre zu kämpfen haben. Horváth hatte mit den Vorarbeiten zu den Geschichten aus dem Wiener Wald 1928/29 begonnen und den Text erst 1931 abgeschlossen. Genau in dieser Zeit bewegen sich nun seine Figuren, aktueller hätte der Autor also damals kaum sein können. Und doch muss es einen Grund geben, warum auch heute noch Alfred, Marianne, der Zauberkönig und Co. in deutschen, österreichischen und schweizerischen Theatern (und Schulen) zu Gast sind. Dieser Lektüreschlüssel will zeigen, dass Horváths angestrebte »»Demaskierung des Bewusstseins«Demaskierung des Bewusstseins«1 nicht nur im historischen Kontext funktionierte, sondern auch in unserer heutigen Zeit angewandt werden kann: Heuchelei und Verlogenheit einer sich bürgerlich gebenden Gesellschaft sind uns noch immer alles andere als fremd. Auch jene Menschen, die sich Wort- und Satzhülsen bedienen, um sich als moralisch oder empfindsam auszuweisen, dann aber aggressiv und brutal handeln, erkennen wir sofort wieder.
Horváths Drama wurde nach seiner Uraufführung am Deutschen Theater Berlin am 2. November 1931 von vielen Heftige ReaktionenKritikern stürmisch gefeiert (»Ein Reichtum«, Alfred Kerr2), von konservativen und rechtsextremen Rezensenten aber auch massiv angefeindet (»Unflat ersten Ranges«, Rainer Schlösser3). Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 wurden alle Stücke Horváths an deutschen Bühnen abgesetzt und verboten. Der Autor wurde 1936 aus Deutschland verwiesen und übersiedelte nach Wien, von wo aus er nach dem »Anschluss« Österreichs an das Dritte Reich im März 1938 ins Exil ging. Er starb am 1. Juni 1938 in Paris.4
Ein Grund für die heftigen zeitgenössischen Reaktionen auf die Geschichten aus dem Wiener Wald lag auch in der Konstruktion des Stückes: Horváth wählte als Untertitel die Bezeichnung » (K)ein »Volksstück«Volksstück«, die eigentlich auf ein unterhaltsames, an ein breites Publikum gerichtetes Drama schließen ließ, mit viel Musik, Tanzeinlagen und einiges an Bühneneffekten. Doch diese Erwartung unterlief der junge Autor: Zwar gab es jede Menge populäre Musik und auch der Titel des Stückes war einem Walzer von Johann Strauß entlehnt – doch wollte Horváth gerade die durch bekannte Volksstücke (mit-)errichtete Fassaden einreißenFassade aus Gemütlichkeit und Familiensinn der kleinbürgerlichen (Wiener) Welt einreißen. Er führte vor, dass hinter den gut klingenden Phrasen und fröhlichen Liedern Bösartigkeit und Aggression lauern.
Trotzdem erscheint die Handlung erst einmal typisch für ein konventionelles Volksstück: Marianne, Tochter eines Spielwarenhändlers, der sich Zauberkönig nennt, soll den Fleischhauer Oskar ehelichen, der eine ›gute Partie‹ für sie wäre. Doch kurz vor der Hochzeit brennt Marianne mit dem Hallodri Alfred durch, mit dem sie auch schnell ein Kind bekommt. Alfred erweist sich allerdings nicht als der Mann ihrer Träume, und Marianne kehrt am Ende des Stückes zu Oskar zurück. Allerdings – und da unterscheidet sich Horváths Volksstück gewaltig von seinen traditionellen Vorgängern – ist in der Zwischenzeit Schlimmes passiert: das Kind ist umgebracht worden, Oskar hat sich als gewalttätiger Mensch erwiesen und auch die anderen Figuren sind als egoistisch und brutal entlarvt worden. Marianne steht nicht vor einem Happy End, sondern sie ist völlig zerstört und hat alles verloren. Der zum Schluss einsetzende Walzer von Johann Strauß ist deshalb nur noch bitterböse Ironie.
Das Drama besteht aus drei Teilen mit insgesamt 15 Bildern (Szenen), die ungleichmäßig verteilt sind (4–7–4). Die ersten beiden Bilder können als Exposition (Einführung des Zuschauers/Lesers in das Stück) betrachtet werden.
I – Draußen in der Wachau.Gleich in der ersten Szene werden wichtige Figuren vorgestellt und auch schon grundlegend charakterisiert: Tunichtgut AlfredAlfred, ein junger Tunichtgut, der eine Stellung bei der Bank verlassen hat, um mit Sportwetten sein Geld (betrügerisch) zu verdienen, ist bei seiner Mutter und Großmutter zu Gast. Obwohl seine Mutter glaubt, er sei gekommen, um sie zu besuchen, wird schnell klar, dass Alfred sich nur einmal satt essen will. Auch hat er für den Aufenthalt in der Heimat wenig Zeit: Er wird bald von seinem Freund, dem Hierlinger Ferdinand, und seiner Freundin Valerie abgeholt und möchte rasch wieder im »Kabriolett« (S. 7) nach Wien zurück. Doch seine Mutter überredet den Hierlinger Ferdinand, sich noch die Burgruine anzusehen, unterhalb derer sie und die Großmutter leben und die sie »verwalten« (S. 10). Währenddessen bleiben Alfred und Valerie zurück und es wird klar, dass Alfred die »ältere Dame« (S. 9), wie er Valerie seiner Mutter gegenüber nennt, bei seiner letzten Wette – wohl erneut – Betrug an Valerie und Großmutterbetrogen hat. Offenbar hat er das Geld der »Kanzleiobersekretärswitwe« (S. 12) gesetzt und gewonnen, aber ihr nicht die korrekte Gewinnsumme ausgezahlt. Auch scheint Alfred mit Valerie mehr zu verbinden, als er gegenüber seiner Mutter zugegeben hat: Jedenfalls küsst sie plötzlich seine Hand. Alfreds Großmutter hat ihm anscheinend ebenso Geld geliehen: Sie fordert dieses nun (erfolglos) von Alfred zurück, weil sie kurz vor ihrem 80. Geburtstag steht, ihren nahenden Tod fürchtet, aber »um [ihr] eigenes Geld begraben werden« (S. 13) möchte. Zwischen ihr und Alfred kommt es davor noch zu einer ungewöhnlichen Szene: Als die Großmutter bemerkt, dass ihr Enkel von ihrer sauren Milch gegessen (»gestohlen«, S. 9) hat und sich darüber beschwert, streckt Alfred ihr die Zunge heraus und ruft »Bäääh«, was sie mit der gleichen Geste und dem gleichen Ausruf quittiert.
II – Stille Straße im achten Bezirk.Die Szene wechselt in eine – auf den ersten Blick – Gediegene Gegendbeschauliche Straße in der Josefstadt, dem achten Wiener Stadtbezirk. Hier liegen eine Metzgerei, ein Puppenladen und ein Tabakladen, der auch Zeitungen, Zeitschriften und Ansichtspostkarten verkauft, friedlich nebeneinander. Über dem Puppen- und Spielwarenladen befindet sich die Wohnung des Besitzers, der sich nach dem Namen seines Ladens »Zauberkönig« nennt.
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