Arthur Schnitzler
Fräulein Else
Lektüreschlüssel XL
für Schülerinnen und Schüler
Von Bertold Heizmann
Reclam
Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgabe:
Arthur Schnitzler: Fräulein Else. Novelle . Hrsg. von Sabine Wolf. Stuttgart: Reclam, 2017. (Reclam XL. Text und Kontext, 19380.)
Diese Ausgabe des Werktextes ist seiten- und zeilengleich mit der in Reclams Universal-Bibliothek Nr. 18155.
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Lektüreschlüssel XL | Nr. 15486
2019 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2019
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961465-6
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015486-1
www.reclam.de
Fräulein Else gehört zu den späten Erzählungen Schnitzlers. Wie in der 20 Jahre zuvor entstandenen erfolgreichen Novelle Lieutenant Gustl bedient er sich der Technik des »inneren Technik: Innerer MonologMonologs«. Als ein Bekannter ihm gegenüber später gesteht, bei der Lektüre von Fräulein Else wegen dieser Erzähltechnik große Schwierigkeiten gehabt zu haben, antwortet ihm der Dichter zu dessen Überraschung, selten sei ihm »etwas Erzählendes so leicht von der Hand gegangen«.1 Er wundert sich, angesichts der Leichtigkeit, mit der ihm die Arbeit von der Hand ging, sowie der »ganz außerordentliche[n] Möglichkeiten«, die diese Technik biete, selbst darüber, dies so selten getan zu haben.2 Allerdings räumt er ein, es würden sich »nur wenige Sujets dazu« eignen.3
Das ›Sujet‹ der Novelle, die selbstquälerischen Zweifel der 19-jährigen Else, lässt Schnitzler eine Erzählweise wählen, die die Distanz zwischen Erzähler und Protagonistin verringert, ja fast völlig aufhebt: Elses Monolog ist in hohem Maße subjektiv und erlaubt dem Leser Einblicke in ihr Inneres, ohne durch Reflexionen eines auktorialen Erzählers unterbrochen zu werden. Schnitzler ist oft dafür gerühmt worden, wie überzeugend es ihm, dem mehr als 60-Jährigen, gelungen ist, sich in die Gefühls- und Gedankenwelt eines jungen Mädchens einzufühlen. Er erweist sich einmal mehr als souveräner Schnitzler: Kenner der weiblichen PsycheKenner der weiblichen Psyche; gerade seine persönlichen Erfahrungen mit durchaus problematischen Frauenfiguren – wozu auch seine zum Zeitpunkt der Abfassung der Novelle 15-jährige Tochter Lili zu zählen ist – haben seinen Blick geschärft für die ›weibliche‹ Sichtweise in Bezug auf Erziehung, Moral, Gesellschaft, Sexualität.
Der zu seiner Zeit berühmte, aber wegen der vielen SkandalschriftenSkandale um seine allzu freizügigen Schriften vielfach angefeindete und mit Prozessen überzogene Autor ist lange Zeit auf diese Skandalschriften, insbesondere den Reigen , reduziert worden. Im Nationalsozialismus bediente Schnitzler das Vorurteil, jüdische Schriftsteller brächen sämtliche moralischen Gesetze oder Tabus und seien deshalb als ›undeutsch‹ oder ›entartet‹ abzulehnen. Auch nach 1945 litten Schnitzlers Schriften unter dem Makel, als allzu zeitbezogen zu gelten: Man amüsierte sich eher darüber, dass derartige Darstellungen das damalige Publikum schockieren und empören konnten. Erst in den letzten Jahrzehnten ist die literarisch interessierte Öffentlichkeit bereit, in Schnitzler auch wieder den sensiblen Psychologen und Gesellschaftskritiker zu sehen, dem es in seinen Theaterstücken und Erzählungen gelungen ist, bei aller Zeitgebundenheit grundsätzliche menschliche Darstellung menschlicher VerhaltensweisenVerhaltensweisen in ihrer Problematik zu thematisieren. Einen schönen Beleg liefert der Film Eyes Wide Shut von Stanley Kubrick (1999), der auf Schnitzlers Traumnovelle basiert: Mühelos gelingt es Kubrick, die Thematik der zwanziger Jahre in Wien nach New York des ausgehenden 20. Jahrhunderts zu transponieren – die Dramatik der zwischenmenschlichen Spannungen ist hier wie dort dieselbe.
Auch wenn es heute fraglich erscheint, ob ein junges Mädchen sich in einer vergleichbaren Situation derartigen seelischen Qualen aussetzt, wie es Else: Selbstfindungsprozess in fragiler UmweltElse tut, so ist die Erzählung dennoch mehr als ein bloßes Spiegelbild einer untergegangenen Zeit, sie ist die nachvollziehbare Darstellung des Selbstfindungsprozesses eines jungen Menschen in einer gesellschaftlich und moralisch fragilen Umwelt.
Ort und Zeit: genau bestimmbarOrt und Zeitpunkt des erzählten Geschehens lassen sich aufgrund einiger nachvollziehbarer Daten genau feststellen: Es spielt am 3. September 18964. Die Titelfigur ist um vier Uhr zum Tennis gegangen und hat beinahe drei Stunden gespielt. Also setzt die Handlung gegen 19 Uhr ein, »zwei Stunden bis zum Dinner« (S. 5), und endet wenige Stunden später. Es liegt somit tendenziell eine Zeitdeckung vor, da Erzählzeit und erzählte Zeit weitgehend übereinstimmen. Auch der Ort wird benannt: Das Geschehen findet im Hotel Fratazza in San Martino di Castrozza am Fuße des Cimone, eines Gipfels der Palagruppe in den Südtiroler Dolomiten, statt. (Das Hotel Fratazza existierte im Jahre 1896 allerdings noch nicht, es wurde erst 1908 errichtet.)
Da die Novelle nicht in Kapitel unterteilt ist, orientiert sich die folgende Inhaltsangabe an Sinnabschnitten der Geschichte.
Der Leser lernt die Else, die »arme Verwandte«Titelfigur als ein 19-jähriges Mädchen aus Wien kennen, das seinen Urlaub auf Einladung der »reichen Tante« Emma in dem noblen Hotel verbringt; normalerweise hätte sie, die »arme Verwandte« (S. 6), sich einen solchen Luxus nicht leisten können. Im selben Hotel halten sich auch ihr Cousin Paul sowie die verheiratete Cissy Mohr auf. Mit den beiden, die sie im Verdacht hat, ein Verhältnis miteinander zu haben, hat Else gerade Tennis gespielt, möchte sich jetzt aber zurückziehen. Sie behauptet, nicht in den gut aussehenden Paul verliebt zu sein, er sei ihr zu »affektiert« (S. 5). In Gedanken ist sie bei einem angekündigten Expressbrief, den sie von zu Hause erwartet und der sie in Unruhe versetzt. Um vier Uhr, als sie zum Tennis ging, war er noch nicht da. Sie befürchtet, möglicherweise in die Stadt zurückkehren zu müssen, denn eigentlich genießt sie das luxuriöse Leben. Andererseits wird spürbar, dass sie sich in der Atmosphäre des vornehmen Hotels manchmal fehl am Platze fühlt, denn die reichen Müßiggänger mit ihrem affektierten Gehabe fallen ihr auf die Nerven. Die Frage, ob und wieweit sie zu diesen gehört, spielt in ihren Gedanken eine wesentliche Rolle, da sie ursprünglich aus »besseren Verhältnissen« (S. 6) stammt und sich selbst als »Snob« (S. 7) fühlt, aber verarmt ist. Eine solche luxuriöse Existenz könnte so schön sein, sagt sie sich, denn sie sei »zu einem sorglosen Leben geboren« (S. 7).
Am Abend begegnen ihr im Hotel verschiedene Gäste, mit denen sie kurz ins Gespräch kommt, so auch der reiche jüdische Kunsthändler Dorsday. Das oberflächliche gesellschaftliche Geplauder enthält deutlich herauszuhörende erotische Erotische UntertöneUntertöne. Else fühlt sich körperlich und seelisch unwohl: körperlich, weil ein Ziehen in den Beinen die Menstruation ankündigt, seelisch, weil der verhängnisvolle Brief immer noch nicht da ist. Schließlich übereicht ihr ein Portier den Brief dann doch, den sie aber erst später in unheilvoller Erwartung auf ihrem Zimmer öffnet.
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