Tatsächlich sind ihre Befürchtungen berechtigt. Ihre Mutter teilt ihr Der verhängnisvolle Briefwortreich mit, dass der Vater, ein mit dubiosen Geschäften betrauter Anwalt in Wien, wieder einmal in große finanzielle Bedrängnis geraten sei und sich nicht mehr zu helfen wisse, da die bisherigen Freunde und Verwandten alle bereits im Übermaß in Anspruch genommen worden oder derzeit nicht verfügbar seien. Er benötige dringend dreißigtausend Gulden, sonst sei »alles verloren« (S. 11). Die Mutter scheint weniger die Insolvenz zu befürchten, als den damit ausgelösten Skandal. In dieser Situation wende man sich jetzt an sie, da sie, die Tochter, in ihrem letzten Brief geschrieben habe, Dorsday getroffen zu haben, den der Vater seit langem kenne, und man bitte sie, doch Dorsday, der Else schon als Kind »immer besonders gern gehabt« habe, um den »Liebesdienst« (S. 13) anzugehen, dem Vater mit dreißigtausend Gulden aus der Not zu helfen. Sollte der Vater die Summe nicht beibringen können, werde er wohl ins Gefängnis wandern müssen, da es sich, wie indirekt durchklingt (und sich später bestätigt), um veruntreute und an der Börse verspekulierte Mündelgelder handele.
Else liest den Brief mit Verbitterung. Ihr geht durch den Sinn, dass die Familie eigentlich schon seit Jahren am Ende ist, aber dennoch nach außen hin eine sorglose Existenz vortäuscht. Sie fühlt sich zerrieben zwischen dem gesellschaftlichen Anspruch einerseits, den insbesondere der Vater aufrechtzuerhalten sucht, und der moralischen Verurteilung der Ursachen dieser Verarmung andererseits. Sie sieht sich außerstande, dem Wunsch der Eltern nachzukommen und Dorsday anzubetteln, zumal sie realistischerweise befürchtet, mit den dreißigtausend Gulden sei es nicht getan (auch das bestätigt sich später); stattdessen gehen ihr einige Alternativen durch den Sinn, die aber allenfalls in der Selbstanklage enden, ihrerseits nicht über die Mittel zu verfügen, die dem Vater aus seiner Klemme helfen könnten. Auch verwirft sie die Möglichkeit, die geizige Tante anzusprechen – diese würde vermutlich solche Mittel auf die Schnelle ohnehin gar nicht flüssigmachen können. Dass sie in dem Ansinnen der Mutter eine Eine unmoralische AufforderungAufforderung zur Prostitution sieht, wird im Weiteren deutlich: Statt den »[w]iderliche[n] Kerl« (S. 17) Dorsday zu fragen, für den sie – befolgte sie den Plan ihrer Eltern – ein tief dekolletiertes Kleid anziehen würde, in dessen Ausschnitt sich dann seine Augen bohren könnten, geht ihr durch den Sinn, den Cousin Paul um die Dreißigtausend anzugehen: er könne dann von ihr haben, was er wolle. Eine solche Szenerie erschiene ihr jedoch wie aus einem schlechten Roman, zumal ein derartiges sexuelles Abenteuer ihr auch noch Vergnügen bereiten könnte. So kommt sie doch auf den Vorschlag der Mutter zurück.
Trotz ihres Abscheus vor den – unterstellten – finanziellen Machenschaften ihres Vaters und des zwischenzeitlich geäußerten Wunsches, dieser möge tot sein (vgl. z.B. S. 14, 36, 37), wächst in ihr dann doch das Bedürfnis der guten Tochter, den Vater zu »»Rettung« des Vatersretten« (S. 16). Und in den nächsten Stunden beginnt sie, sich mit dem Gedanken zu befassen, Dorsday »an[zu]pumpen« (S. 18), obwohl sie sich sehr wohl darüber im Klaren ist, dass dieser eine Gegenleistung fordern werde. Sie beschwört Erinnerungsbilder sowohl aus der eigenen Bekanntschaft als auch aus der Literatur herauf, die ihr – gegen alle Skrupel – das Alltägliche und Gewöhnliche eines solchen Arrangements zeigen sollen. Aber da sie selbst noch über keine Erfahrungen in diesem Gebiet verfügt, helfen ihr diese Vorstellungen nicht weiter. In ihrer Verzweiflung wünscht sie tot zu sein.
Von solchen widersprüchlichen Widersprüchliche EmpfindungenEmpfindungen erfüllt, bereitet sie sich auf ein Treffen mit Dorsday vor. Mehrere Variationen gehen ihr durch den Sinn, wie sie ihn ansprechen könnte. Und immer wieder schweifen ihre Gedanken ab und zeigen ihre ganze Verwirrung. Es sind durchweg erotisch gefärbte Bilder und Emotionen: die Mutter, die sicherlich immer eine treue Gattin war – sie selbst würde aber nicht treu sein; sie will später keine Kinder haben (sie sei nicht »mütterlich«, S. 21), dann aber möchte sie einen Gutsbesitzer heiraten und doch Kinder haben (vgl. S. 21); sie schwankt hin und her zwischen der Zuneigung zu dem (allzu) anständigen Jugendfreund Fred und der Imagination eines »Filous«. Sie stellt sich vor, einen Mann und »tausend Geliebte[]« zu haben, findet aber die Vorstellung, dass Paul und Cissy zusammen im Bett liegen, »[u]nappetitlich« (S. 22). Sie fühlt sich »ganz allein«, »so furchtbar allein« (S. 22).
Sie geht in die Hotelhalle hinunter. Noch ist es nicht Zeit zum Dinner. Paul und Cissy kommen vom Tennis, Cissys Geplapper stört Else, und selbst Pauls Komplimente empfindet sie als lästig, da sie innerlich mit der Begegnung mit Dorsday beschäftigt ist. Endlich verabschiedet sich Paul, und es kommt zum Aufeinandertreffen mit Dorsday, dessen verbale und körperliche Zudringlichkeiten sie im Bewusstsein erduldet, bereits »so tief gesunken« zu sein (S. 29). Größtenteils widerstrebend (»O, Gott, wie ich mich erniedrige«, S. 30) bringt sie die Rede auf den Brief der Mutter, die verzweifelte Situation des Vaters, dessen frühere private und geschäftliche Beziehungen zu Dorsday. Dieser durchschaut die Hintergründe, scheint allerdings anfangs bereit, dem Vater zu helfen, wenngleich er – so wie schon zuvor Else – überzeugt ist, dass dieser finanzielle Kraftakt lediglich »[e]in Tropfen auf einen heißen Stein« sein dürfte (S. 31). Dem widerspricht Else jetzt heftig; aber als sie zu spüren meint, ihre Bitten seien vergeblich, möchte sie das Gespräch beenden. Da zeigt sich Dorsday zu der Maßnahme bereit, »unter einer Dorsdays »Bedingung«Bedingung« (S. 33). Er gibt unumwunden zu, Else zu begehren, und als Gegenleistung für sein finanzielles Entgegenkommen wünscht er, Else solle sich ihm nackt zeigen. Dies solle auf seinem Hotelzimmer geschehen oder auch auf einer Waldlichtung; sie solle sich entscheiden. Er gibt ihr Bedenkzeit und verabschiedet sich.
Diese Bedingung ist zwar weniger, als Else befürchtet hatte, aber sie weiß, dass es ein Sündenfall wäre. In den folgenden Stunden gehen ihr erneut die widersprüchlichsten Elses GedankenchaosGedanken durch den Sinn: Sie stellt sich vor, der Vater sei im Gefängnis und die Familie litte unter der Schande, oder aber er erschieße sich, wenn der Haftbefehl käme. Sie verurteilt zwar die Veruntreuung der Gelder durch ihren Vater, dessen »verbrecherischen Leichtsinn[]« (S. 39), sieht dann aber auch wieder entlastende Gründe für seine Taten, und vielleicht werde der Vater ja auch als unzurechnungsfähig eingeschätzt und freigesprochen. Immer wieder fantasiert sie von alternativen Lösungen für die Situation – vielleicht werde doch irgendein Onkel aushelfen. Aber der Gedanke, dass sie von den eigenen Eltern an Dorsday verkauft worden ist, obwohl diese wissen mussten, dass der reiche Kunsthändler »nicht[s] für nichts und wieder nichts« tue (S. 39), lässt sich nicht verscheuchen. Die Abfolge der durch Assoziationen heraufbeschworenen Bilder nimmt rapide zu: Vater, Mitbewohner des Hotels, Geld, Nacktheit, die Vision ihres eigenen Todes, alles geht Else durch den Sinn, so dass sie hinterher nicht weiß, ob sie geschlafen und diese Bilder geträumt hat.
Die Vorstellung, selbst Imagination des eigenen Todestot zu sein, nimmt einen breiten Raum in Elses Gedanken ein. Sie sieht sich selbst als Tote aufgebahrt und vermeint die Stimmen der anderen zu hören, die über die Gründe ihres Todes spekulieren. Dorsday könne ja dann ihren nackten Leichnam sehen – somit habe sie ihren Teil der Abmachung erfüllt. Diese Vorstellung erfüllt sie mit einer finsteren Schadenfreude. Dann wieder schreckt sie davor zurück, sich selbst zu töten, sie fühlt sich dazu »viel zu feig« (S. 52).
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