Immer wieder sträubt sich ihr Inneres dagegen, sich vor Dorsday zu prostituieren. Sie wird sich zwar bewusst, dass sie sich noch vor kurzem ausgemalt hat, ein Leben als »»Luder« oder »Dirne«?Luder« (S. 38 und 39) zu führen – dazu gehöre weit mehr als sich vor einem Mann für Geld nackt zu zeigen (vgl. auch S. 53) –, aber sie unterscheidet doch zwischen »Luder« und »Dirne«: »[I]ch verkaufe mich nicht« (S. 39).
Als sie wieder die Hotelhalle betritt, trifft sie auf Paul, der sich Sorgen um sie gemacht hatte, weil sie nicht zum Diner gekommen war und weil sie blass aussieht. Sie vertröstet ihn und möchte auf ihr Zimmer gehen. Da überreicht ihr der Portier eine Depesche. Bevor sie diese öffnet, blitzt kurz die Hoffnung in ihr auf, der Vater könne sich tatsächlich umgebracht haben und somit würde die Abmachung mit Dorsday hinfällig sein – sofort aber bekommt sie wegen dieser Gedanken ein schlechtes Gewissen. Das Telegramm enthält jedoch die Mitteilung, es müssten nicht dreißig-, sondern fünfzigtausend Gulden aufgebracht werden, sonst sei »alles vergeblich« (S. 55). Dies stürzt Else in erneute Neue VerlegenheitVerlegenheit, denn sie weiß nicht, wie sie Dorsday die Erhöhung der Summe plausibel machen soll, zumal sie ja immer noch nicht mit sich ins Reine gekommen war, ob und wie sie sich überhaupt auf den Handel einlassen soll. Mit Macht kehren die Gedanken an Selbstmord wieder. Die Tütchen mit Veronal sind ihr jetzt »die lieben Pulver« (S. 57). Schließlich fasst sie den Entschluss, sich nackt auszuziehen und, nur in einen Mantel gehüllt, in die Hotelhalle hinunterzugehen; sie spielt mit dem Gedanken, sich vor allen Anwesenden zu entblößen. Zuvor will sie Dorsday einen Brief zukommen lassen, in dem sie kundtut, sie habe die Bedingung erfüllt und er solle seinerseits den erhöhten Betrag anweisen; anschließend will sie das Veronal zu sich nehmen und einschlafen. Sie weiß nur noch nicht, ob sie es nur schluckweise als Schlafmittel dosiert nehmen soll oder als tödliche Überdosis, jedenfalls bereitet sie ein Glas mit dem ganzen verbliebenen Pulver vor.
Zögerlich und in banger Erwartung, die sich mit einer Art morbider Vorfreude mischt, macht sie sich auf den Weg; sie legt den Brief vor Dorsdays Zimmertür. In der Halle begegnet sie nur einigen Fremden und dem Portier, die sie teils »verdächtig«, teils »hochachtungsvoll« (S. 66) zu mustern scheinen. Dorsday selbst ist zunächst nicht zu finden, auch im Spielzimmer nicht, wo sie ihn am ehesten vermutet hat. Dies erfüllt sie jeweils vorübergehend mit Freude, sie fühlt sich »[g]erettet«, weiß aber doch, dass sie »verdammt [sei], Herrn von Dorsday zu suchen bis an [ihr] Lebensende« (S. 68). Die Tante, die zufällig vorbeikommt, bemerkt besorgt ihr blasses Aussehen und will sogar nach einem Arzt rufen, gibt sich dann aber mit Elses Ausflüchten zufrieden. Den Klängen eines vertrauten Klavierstückes – Schumanns »Carnaval« – folgend, kommt sie schließlich ins Musikzimmer, in dem einige Herren, darunter Dorsday und ein junger Mann, der ihr schon früher aufgefallen ist, da er nicht nur ein schöner Jüngling (ein »Römerkopf«, z. B. S. 69), sondern auch ein »Filou« (S. 69) zu sein scheint, dem Klavierspiel lauschen. Als Dorsday sie erblickt, öffnet sie den Mantel und zeigt sich in ihrer Sie zeigt sich nacktNacktheit. Die Augen aller sind auf sie gerichtet; insbesondere die Blicke Dorsdays empfindet sie als körperliche Berührung. Sie beginnt, hysterisch zu lachen. Unfähig, dem psychischen Druck, dem sie in den letzten Stunden ausgesetzt war, weiter standzuhalten, bricht sie zusammen und wird von den heraneilenden Hotelgästen – darunter Paul und Cissy sowie Tante Emma – für ohnmächtig gehalten.
Sie befindet sich allerdings in einem halbwachen Elses »Ohnmacht«Zustand, in dem sie die verschiedenen Stimmen vernimmt und sie für sich kommentiert. Die Äußerung, eine »Tragbahre« (S. 72) werde sofort hier sein, empfindet sie, nicht ohne Sarkasmus, als durchaus passend, da eigentlich nur Leichen aufgebahrt werden. Aus dem Stimmengewirr hört sie auch deutlich heraus, dass die – zuvor schon von Else als unangenehm empfundene – übertriebene Sorge der Tante eher geheuchelt war. Der Tante ist die Situation wegen des »Skandal[s]« (S. 75), den ihre Nichte hervorruft, peinlich; sie möchte anderntags abreisen, allerdings nicht zusammen mit »dieser Person«, die sie in einer »Anstalt« (S. 74) unterzubringen beabsichtigt. Auch wird Else gewahr, dass Cissy Paul duzt – darin sieht sie die endgültige Bestätigung für eine Liaison zwischen den beiden. Paul, der ja selbst Arzt ist, auch wenn ihm seine Mutter wenig zuzutrauen scheint, hat sich als Erster Elses angenommen und verspricht, sich um sie zu kümmern. Man schafft Else in ihr Zimmer und legt sie dort ins Bett. Die Tante geht und wiederholt dabei ihre Ansicht, Else benötige eine »Wärterin« (S. 75). Paul und Cissy wollen die Nachtwache halten; Paul ist in echter Sorge, wohingegen die – offensichtlich eifersüchtige – Cissy Else eher misstraut. Dorsday kommt an die Tür und erkundigt sich nach Else. Während Paul vor der Tür mit ihm sich flüsternd unterhält, beugt sich Cissy über Else und wirft ihr, in der Überzeugung, diese könne alles hören, vor, den ganzen »hysterische[n] Anfall« (S. 76) lediglich inszeniert zu haben. Als auch sie auf den Flur tritt, um an dem Gespräch zwischen Paul und Dorsday teilzunehmen, greift Elses EndeElse nach dem bereitstehenden Glas mit dem Veronal und trinkt es leer. Das Glas fällt klirrend zu Boden; aufgrund des Geräusches kommen Paul und Cissy zurück. Die misstrauische und eifersüchtige Cissy hält es nach wie vor für möglich, dass Else wach ist; Paul aber kommt, nachdem er ihr den Puls gefühlt hat, zu dem Schluss, Else sei eingeschlafen. Ihm entgehen also Elses Bemühungen, tatsächlich wach zu werden und Paul, den Arzt, anflehen zu können, sie zu »retten« (S. 78, 79).
Diese letzten Regungen des Überlebenswillens und der Todesangst werden begleitet von wirren Visionen einer SterbendenErinnerungsfetzen, in denen Personen teils aus der Kindheit, teils aus der jüngsten Vergangenheit, in abenteuerlichen Kostümen und mit grotesken Handlungen an ihrem inneren Auge vorbeiziehen. Dominant ist der Gedanke, alle seien »Mörder« (S. 77), weil sie ihren Tod verschuldet haben; im Sträflingsgewand singen diese Figuren einen schauerlichen Chor, in dem sich kindlich-vertraute und erotische Elemente vermischen. Von allen fühlt Else sich alleingelassen – wie eigentlich ihr ganzes Leben schon. Bevor sie das Bewusstsein endgültig verliert – Pauls Rufe dringen nicht mehr zu ihr vor –, wähnt sie zu fliegen; ein anderer Chor, begleitet von Orgelklängen, in den alle, auch sie selbst sowie die »Wälder […] und die Berge und die Sterne« (S. 81), einstimmen, scheint ihr das Schönste zu sein, was sie je gehört hat. Erst »[m]orgen früh« (S. 81) möchte sie wieder geweckt werden, auch wenn vieles dafür spricht, dass sie diesen Morgen nicht mehr erleben wird.
Abb. 1: Figurenkonstellation aus der Sicht Elses. Die Farben symbolisieren Elses Gefühle für ihre Mitmenschen: Je intensiver das Rot, desto negativer ist Else der Figur gegenüber eingestellt.
Die literarische Technik des inneren Monologs (siehe Kap. 4) bedingt, dass wir zwar Elses Innenleben intensiv kennenlernen und deshalb die Gedanken und Gefühle der Hauptfigur beurteilen bzw. interpretieren können; das Fehlen eines neutralen oder auch auktorialen Erzählers hat jedoch zur Folge, dass wir ebenso alle anderen Figuren der Erzählung nur aus Elses Sicht wahrnehmen. Die Figurenanalyse wird also versuchen, objektivierbare Fakten aus Elses subjektiver Beschreibung herauszuarbeiten.
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