Gottfried Keller
Romeo und Julia auf dem Dorfe
Lektüreschlüssel XL
für Schülerinnen und Schüler
Von Klaus-Dieter Metz
Reclam
Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgabe:
Keller: Romeo und Julia auf dem Dorfe. Novelle . Hrsg. von Wolfgang Pütz. Stuttgart: Reclam, 2013 [u. ö.]. (Reclam XL. Text und Kontext, 19040.)
Diese Ausgabe des Werktextes ist seiten- und zeilengleich mit der in Reclams Universal-Bibliothek Nr. 6172.
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Lektüreschlüssel XL | Nr. 15487
2019 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2019
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961484-7
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015487-8
www.reclam.de
Eine Züricher Freitags-Zeitung , 3. September 1847Kurzmeldung macht den Anfang. In ihr heißt es, ein jugendliches Liebespaar habe sich nach durchtanzter Nacht in einem Wirtshaus eines sächsischen Dorfes auf dem Feld erschossen, da es wegen seiner zerstrittenen Elternhäuser nicht habe zusammenkommen können.1
Diese Realität, nicht NachahmungNachricht steht am 3. September 1847 in der Züricher Freitags-Zeitung . Sie wäre aber längst vergessen, wenn nicht ein Schweizer Dichter die Meldung zum Ausgangspunkt einer Geschichte gemacht hätte. Zeit seines Lebens hat Gottfried Keller immer wieder Wert darauf gelegt zu betonen, dass seine Geschichte von Romeo und Julia auf diese Weise entstanden und keine bloße Nachahmung Shakespeares sei.
Wenn ein Dichter – so leitet Keller seine Geschichte ein – sich wieder einmal eines traurigen Schicksals annimmt, wie es jener Zeitungsnachricht aus dem Jahr 1847 zugrunde liegt, dann muss er wissen, dass ein solches Geschehen nicht einmalig, nicht originell ist, sondern dass auf Uralter Stoff … in immer neuen VariationenStoffen dieser Art von jeher »die großen alten Werke gebaut sind« (S. 3); denn die Zahl dieser Fabeln ist zwar gering, »aber stets treten sie in neuem Gewande wieder in die Erscheinung« (S. 3).
Also hat auch Keller seine Geschichte Romeo und Julia betitelt, um von vornherein zu demonstrieren, dass sich solche uralten Geschichten immer wieder aufs Neue ereignen. Hätte er dies unterlassen, wäre er zudem kaum dem Vorwurf entgangen, er habe sich einer großen alten Tradition bedient, ohne dies kenntlich zu machen. Die stets in neuen Variationen und Brechungen wiederkehrenden Urstoffe faszinieren offensichtlich Dichter so sehr, wenn sie ihnen im wirklichen Leben begegnen, dass sie gar nicht anders können, als sie auf ihre eigene Art festzuhalten, sie also in Poesie zu verwandeln. Und sie bauen darauf, dass ihr Werk Leser und Leserinnen abermals für sich gewinnt, denn die alten Stoffe müssen sich unaufhörlich an der Wirklichkeit reiben, sich an ihr beweisen, in ihr zu Hause bleiben.
Was sich also früher bei Shakespeare abgespielt hat, ist auch bei Keller nicht aus der Welt geschafft: Zwei Menschen möchten zueinander finden, sich ganz gehören. Das kann aber nicht geschehen, da sie Gruppen oder Parteien angehören, die sich Grundsituation: Feindschaft und Liebefeindlich gegenüberstehen. Dies ist die Grundsituation, aus der die Katastrophe entsteht; denn die beiden, die sich lieben, gehen in den Tod, weil sie nicht zusammenkommen dürfen.
Kellers Geschichte lehrt darüber hinaus – und darin unterscheidet sie sich gründlich von Shakespeares Tragödie – warum Menschen überhaupt zu Romeos und Julias werden, warum Streit und Feindschaft entstehen, wie Entstehung von Unrecht und SchuldUnrecht und Schuld, zuerst meist alltäglich, nicht erwähnenswert, im Stillen und Verborgenen wachsen, dann groß werden, überhandnehmen, bis sie Menschen rücksichtslos gegeneinander treiben und sie zu unerbittlichen Gegnern machen, die nicht nur sich selbst, sondern auch noch die ihnen nahestehenden Personen blindlings mit ins Verderben reißen.
Was sich bei Shakespeare in der Stadt Verona und bei Keller auf dem Dorfe ereignet, kann sich jederzeit an einem Im Wandel: Schauplätze und Figurenanderen Ort, in jedem Winkel der Welt wiederholen, also im Flüchtlingslager, am Arbeitsplatz, auf der Straße, im Klassenraum, im Jugendtreff, im Sportstadion, beim Feiern im Club. Und wie schon Kellers Figuren nicht mehr Romeo und Julia, sondern Sali und Vrenchen heißen, so wechseln bis heute und in Zukunft die Namen der Menschen, die in Liebe zusammenleben möchten, aber Opfer von Feindschaft, Hass und Gewalt werden, nur weil sie gegnerischen Lagern angehören.
Alle Romeos und Julias aber stehen als Beweis dafür, dass Liebe auch mitten in einer aussichtslosen Situation noch ihren Platz hat und ihn behauptet. Das muss die eigentliche Die eigentliche BotschaftBotschaft, die Hoffnung sein, die von Geschichten wie Gottfried Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe trotz aller Dunkelheit und Tragik ausgeht. Die Unbeteiligten, hier also die Leser, müssen eine Einsicht gewinnen, die weit über das Schicksal aller Romeos und Julias hinausreicht: Die Liebe hat nicht im Tod, sondern im Leben ihren Platz, sie kann nur in der Welt ihren Sinn suchen und ihre Erfüllung finden. Auch Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe muss letzten Endes diese Lebensbejahung als Botschaft aussenden können.
2. Inhaltsangabe
Pflügende Bauern und spielende Kinder (S. 3–11)
In der Nähe eines Flusses, unweit von Seldwyla, einem kleinen Schweizer Städtchen, erstrecken sich über eine Anhöhe drei Äcker. Dort Pflügende Bauernpflügen an einem sonnigen Septembermorgen Manz und Marti, zwei etwa 40 Jahre alte Bauern aus einem nahegelegenen Dorf, die beiden äußeren Felder mit sicherer Hand. Nur der mittlere, seit mehr als 20 Jahren herrenlose Acker trennt die Pflüger voneinander. Diese gehen zwar in entgegengesetzter Richtung, sonst aber kaum voneinander unterscheidbar, ruhig und harmonisch ihrer Arbeit nach.
Erst als die Kinder der beiden Männer, der siebenjährige Sali und die fünfjährige Vrenchen2, einen Imbiss in einem kleinen Wägelchen heranfahren, unterbrechen Manz und Marti ihre Tätigkeit und setzen sich einträchtig zusammen. Dabei kommt bald die Rede auf den mittleren, inzwischen vollkommen verwilderten Acker und dessen mutmaßlichen Eigentümer. Es handelt sich um einen Landstreicher, Gelegenheitsarbeiter und -musiker: den schwarzen Manz und Marti über den schwarzen GeigerGeiger; so genannt, da ihm mit der Zeit der bürgerliche Name verlorengegangen ist. Manz und Marti, beide gestandene Bauersleute, sind wie alle anderen Dorfbewohner jedoch in keiner Weise bereit, den Wohnsitzlosen in ihre Gemeinde aufzunehmen; denn sie enthalten ihm wissentlich das ihm zustehende Stück Land vor, auf das er als Enkel des ehemaligen Eigentümers, eines längst verstorbenen Trompeters, Anspruch hätte. Obwohl Manz und Marti Abhilfe schaffen könnten, denken beide nicht daran, das Verwandtschaftsverhältnis und den daraus folgenden Erbanspruch auf den verwilderten Acker zu bezeugen, sodass der schwarze Geiger ohne Papiere und damit ohne Rechte bleibt.
Während dieses Gesprächs richten die beiden Kinder mitten in der Wildnis des herrenlosen Ackers ihren Spielplatz ein. Hier zerstören und begraben sie Vrenchens mitgebrachte Puppenspiel der KinderPuppe, in deren Kopf sie zuvor noch eine lebende Fliege eingesperrt haben. Anschließend zählen sie sich im friedlichen Beieinander und in kindlicher Unschuld gegenseitig ihre Zähnchen durch, ohne zu einem Ergebnis zu kommen, ehe sie in der warmen Herbstsonne erschöpft einschlafen.
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