Joseph von Eichendorff
Das Marmorbild
Lektüreschlüssel XL
für Schülerinnen und Schüler
Von Wolfgang Pütz
Reclam
Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgabe:
Joseph von Eichendorff: Das Marmorbild. Novelle . Hrsg. von Lore Salomon. Stuttgart: Reclam, 2014. (Reclam XL. Text und Kontext, Nr. 19159.)
Diese Ausgabe des Werktextes ist seiten- und zeilengleich mit der in Reclams Universal-Bibliothek Nr. 18539.
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Lektüreschlüssel XL | Nr. 15507
2019 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2019
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961503-5
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015507-3
www.reclam.de
Abb. 1: Venus Italica (1822/23). Marmorskulptur aus der Werkstatt Antonio Canovas (1757–1822). Metropolitan Museum of Art, New York (Nachlass Lillian Rojtman Berkman, 2001)
Joseph von Eichendorffs Novelle Das Marmorbild aus dem Jahre 1819 erzählt von den Irrungen und Wirrungen eines Thema Persönlichkeitsreifungjungen Mannes auf dem Weg zur Erkenntnis der wahren Liebe, die über die sexuelle und erotische Stufe hinaus die seelische und geistige Verbundenheit mit der anderen Person beinhaltet. Damit nimmt der Autor »den Sexualitätsdiskurs romantischer Literatur wieder auf, den bereits Friedrich Schlegels Roman ›Lucinde‹ und Brentanos ›Godwi‹ thematisierten«.1 Er verzichtet aber darauf, einem »christlichen Keuschheits- und Entsagungsprogramm« das Wort zu reden, und versucht stattdessen, mit seinem epischen Text »die komplexe Psychologie einer Figur in romantischer Bildersprache aufzuhellen«2. Dem entspricht die Interpretation von Ludwig Stockinger: Eichendorffs Novelle erzählt von einem entscheidenden Moment in der Ausbildung »der sexuellen und sozialen Identität eines jungen Mannes Adoleszenzkrise aus der Perspektive einer bestimmten moralischen Norm. Die Natur der Sinne – hier die sexuelle Begierde – soll so in die Ich-Identität integriert werden«, daß die Freiheit, und damit auch die Anerkennung »des sexuell begehrten Andern als einer freien Person, der man sich in Liebe zuwendet«, gewahrt bleibt. Dies, so Stockinger, entspreche der um 1800 entwickelten, zur Zeit der Veröffentlichung der Novelle schon weitgehend konventionalisierten Konzeption von Liebe.3
Das literarische Porträt, das den jugendlichen Florio in der Auseinandersetzung mit der eigenen Triebnatur zeigt, ist relativ differenziert und steht damit in einem Gegensatz zur Einfachheit des Marmorstandbilds der antiken Liebesgöttin Venus. Die künstlerische Reduktion der Frau auf deren jungen PubertätsproblematikKörper entspringt dabei einem ideologischen Bildprogramm, das sich unter anderem aus traditionellen männlichen Vorurteilen und Domestizierung der männlichen SexualitätRessentiments sowie aus den sexualitätsfeindlichen Diskursen religiöser Fundamentalismen speist. Antikes Heidentum und sektiererische Morallehre verdichten sich in einer behaupteten Dämonie der Venus, die ihren nackten Körper einsetzt, um den Mann zum willenlosen Objekt ihrer Herrschaft zu machen.
Dem Bild der verführerischen Die Frau – Hure und HeiligeFrau stellt die romantische Literatur – so auch Das Marmorbild – das Bild der Jungfrau Maria entgegen, dem Motiv von obszöner Entblößung und sündiger Lüsternheit dasjenige der keuschen Madonna und frommen Gottesmutter. Natürlich ließe sich – in einer einseitig textkritischen Absicht – Eichendorffs Novelle auf diese schlichte Schwarz-Weiß-Opposition der Geschlechter und auf die heroische Rolle des Mannes reduzieren, der die Herrschaft des Sexus durch Selbstbesinnung, Erkenntniszuwachs und Glaubensfestigkeit überwindet. Da aber neben der antiken Liebesgöttin als Personifikation von verlockender Schönheit und zerstörerischer Sinnenlust eine Reihe weiterer Frauenfiguren die Handlung bestimmen, vertieft sich auch die Darstellung der Beziehung von Mann und Frau. Unter den »niederschwebenden Mädchenbilder[n]« auf dem Festplatz in Lucca ragt eines heraus, das mit dem »vollen, bunten Blumenkranz in den Haaren […] wie ein fröhliches Bild des Frühlings anzuschauen« (S. 5) ist. Neben diese positive Repräsentationen des WeiblichenFiguration der blühenden und wachsenden Frühling, Musik, NaturFrühlingsnatur, die in der Ikonographie der europäischen Kunst häufig in der Gestalt einer jungen Frau mit Blütenkranz dargestellt wird, treten die Lautenspielerin, die Griechin und die Sängerin, die sämtlich namenlos und lediglich durch ihre Funktionen als Variationen des Weiblichen definiert sind. Zwischen allen diesen typisierten Figuren besteht eine häufig nur unterschwellig erkennbare Verbindung (vgl. Kap. 3 »Bianka«, S. 35 ff.), die sich bei unterschiedlichen Frauen etwa in analogen Formulierungen wie »Du kennst mich« (S. 27) und »Ihr habt mich öfter gesehen« (S. 33) manifestiert.
Abb. 2: Allegorie des Frühlings (um 1624/26). Ölgemälde von Gerard van Honthorst (1592–1656)
© akg-images / Galerie Arnoldi-Lievie, München
Die Eröffnungsszene/ExpositionNovelle Das Marmorbild erzählt zu Beginn von der zufälligen Begegnung des jungen Adligen Florio mit »dem berühmten Sänger« (S. 6) Fortunato inmitten einer idyllischen Mittelmeerlandschaft. Das nun folgende Gespräch zwischen den beiden Männern steht am Anfang einer verwickelten Liebesgeschichte, die erst glücklich enden wird, wenn Florio nach zahlreichen merkwürdigen und verstörenden Erlebnissen in dem Mädchen Bianka eine Gefährtin gefunden haben wird.
Vor der Kulisse einer sommerlichen Natur in der italienischen Ort und Zeit der HandlungToskana konzentriert sich das fiktive Geschehen auf die Stadt Lucca, die gleich im ersten Satz erwähnt wird. Ihre Blütezeit hatte diese vor allem durch ihre Textilindustrie reich und berühmt gewordene Stadt im 13. und 14. Jahrhundert.
Abb. 3: Lucca, vom Turm des Palazzo Guinigi aus. – Myrabella / Wikimedia Commons / CC BY-SA 3.0
Im Gegensatz zu der präzisen Lokalisierung der Erzählhandlung lässt sich der historische Zeitpunkt nur indirekt erschließen. Dass es sich um eine offenbar Romantische Verklärung des Mittelaltersmittelalterliche Szenerie handelt, legen vereinzelte Informationen etwa zum sozialen Status von Figuren nahe, die als »Edelmann« (S. 3), »Spielmann« (S. 4) und »Ritter« (S. 5) bezeichnet werden. Auch die Angaben zur Kleidung der Akteure bestätigen diese Vermutung, wenn beispielsweise Fortunato in der Mode einer fernen Vergangenheit auftritt: Er trägt eine »bunte[ ] Tracht […] und ein samtnes Barett mit Federn« (S. 3), wie sie seit dem Ende des 15. Jahrhunderts bei Frauen und Männern der Oberschicht Mode waren. Einen weiteren Hinweis gibt der Begriff des »Zelter[s]« (S. 3), der im Mittelalter ein leichtes Reitpferd oder Maultier bezeichnete.
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