Gotthold Ephraim Lessing
Emilia Galotti
Lektüreschlüssel XL
für Schülerinnen und Schüler
Von Theodor Pelster
Reclam
Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgabe:
Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Hrsg. von Thorsten Krause. Stuttgart: Reclam, 2014 [u. ö.]. (Reclam XL. Text und Kontext 19225.)
Diese Ausgabe des Werktextes ist seiten- und zeilengleich
mit der in Reclams Universal-Bibliothek Nr. 45.
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Lektüreschlüssel XL | Nr. 15449
2017 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2018
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961198-3
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015449-6
www.reclam.de
»Was soll ich Eine Grundfrage der Ethiktun!«, ruft Emilia Galotti, die Haupt- und Titelfigur aus Lessings Trauerspiel, an einem Höhepunkt der dramatischen Handlung und ziemlich genau in der Mitte dieses Stückes (III,5). Der Form nach ist diese Äußerung eine Frage; die Umstände machen sie zu einem Ausruf, der keine Antwort erwartet. Ein Ausrufezeichen schließt den Satz und eine Regiebemerkung empfiehlt der Schauspielerin, die schwierige Lage durch Gestik zu verdeutlichen: »Die Hände ringend«.
Damit steht die Grundfrage der Ethik – »Was sollen wir tun?« – der Form nach und auch inhaltlich im Mittelpunkt von Lessings Drama. Sie wird zugleich aufgenommen, zugespitzt und mit deutlichem Zweifel versehen, ob sie zufriedenstellend beantwortet werden könne. Emilia ahnt, dass sie in eine kritische, wenn nicht aussichtslose Lage geraten ist. Sie ist getrennt von den Instanzen, die ihr bisher beigestanden und geraten haben – so ihr Vater und ihre Mutter –, und sie muss nun aus eigener Kraft handeln und weiß nicht, wie.
Die Ethik leitet an, von der Grundfrage »Was soll ich tun?« ausgehend, die jeweilige Situation, in der ein Mensch handeln muss, genau einzuschätzen und dann nach moralisch vertretbaren Lösungen zu suchen, die zu einem erstrebten Ziele menschlichen HandelnsZiel hinführen. Dabei zeigt sich, dass weder die Ziele noch die Wege der einzelnen Menschen eindeutig zu bestimmen sind. Aristoteles (384–322 v. Chr.) schreibt zu Beginn seiner Nikomachischen Ethik : »[…] jede Handlung und jeder Entschluss scheinen ein Gut vor Augen zu haben. Daher hat man sehr richtig das Gute als das hingestellt, wonach alles strebt. Doch es scheint einen Unterschied in den Zielen zu geben.«1
Emilia ist nicht die einzige Figur in Lessings Drama, die sich vor die Frage nach dem angemessenen Handeln gestellt sieht. Der Prinz, ihr Gegenspieler, fragt seinen Kammerdiener: »Was würden Sie tun, wenn Sie an meiner Stelle wären?« (I,6). Und am Ende des Trauerspiels ruft Odoardo, der Vater, der seine Tochter erdolcht hat, aus: »Gott, was hab ich getan?« (V,7). Nicht auf alle Fragen werden Antworten gegeben. Und wo Antworten gegeben werden, müssen sie nicht einmal angemessen und akzeptabel sein.
Eng verknüpft mit der Frage »Was soll ich tun?« sind zwei weitere Fragen: »Was will ich tun?« und »Was darf ich tun?«. Dass Wollen und Dürfen häufig in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen, erfährt jeder Mensch an sich selbst. Dabei steht der nach- und vordenkende, also der gewissenhafte Mensch vor einer weiteren Frage, nämlich: »Wer bestimmt und entscheidet, was ich darf?« Auch diese Frage stellen und beantworten einzelne Figuren des Dramas für sich.
Was will, darf und soll ein junger Prinz, der ein Fürstentum regiert? Das ist nicht nur eine Frage der Ethik und PolitikEthik, sondern auch der Politik. Ist es wirklich so, wie eine der Hauptfiguren erfahren zu haben glaubt, dass ein Fürst »alles darf, was er will« (V,4)? Welche Möglichkeiten bleiben dann den Menschen im Staat, den sogenannten »Untertanen«, ihr Leben zu gestalten und ihre Ziele zu verwirklichen?
Das Drama gilt als »die konkreteste Form der Darstellung menschlichen Verhaltens und zwischenmenschlicher Beziehungen«2. Es ist des Weiteren die »konkreteste Art, in welcher wir über die Lage des Menschen in der Welt denken können«.3 Lessings Drama wurde 17 Jahre vor dem Ausbruch der Französischen Revolution uraufgeführt. Es wurde vom Autor, dem großen Repräsentanten der Aufklärung, als »Trauerspiel« angekündigt. Die Literaturwissenschaft etikettiert es genauer als »Ein »bürgerliches Trauerspiel«bürgerliches Trauerspiel«. Damit ist nicht nur etwas über die Bauart und den Ausgang des Stückes gesagt; vielmehr wird deutlich, dass es darin auch um die Werte und die Perspektive des bürgerlichen Standes geht, der sich zur Entstehungszeit des Dramas neu positionierte. Die gestellten Fragen sind jedoch nicht an eine bestimmte Zeit und nicht an eine bestimmte Staats- und Regierungsform gebunden. Sie stellen sich überall, wo Menschen als soziale Wesen nach einem Lebensziel suchen und nach Wegen, dorthin zu gelangen.
Das Drama Emilia Galotti ist in Prosa verfasst und wurde 1772 im Hoftheater in Braunschweig zum ersten Mal aufgeführt. Es ist in fünf Aufzüge eingeteilt und besteht aus insgesamt 43 Szenen oder Auftritten. Die Ort und Zeit der HandlungHandlung spielt in der Mitte des 18. Jahrhunderts in einem absolutistisch regierten italienischen Kleinstaat in der Po-Ebene. Dort regierte das Fürstengeschlecht Gonzaga vom 14. bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts. Ein Hettore Gonzaga ist jedoch historisch nicht nachweisbar. Die Tragödie der Emilia Galotti hat ihre Der Stoffstoffliche Grundlage in der römischen Sage vom Tod der Virginia, über den der römische Historiker Titus Livius (59 v. – 17 n. Chr.) berichtet. Dieser Stoff war schon vor Lessing in Frankreich, England, Spanien und Deutschland dramatisiert worden.
1. Auftritt:Am frühen Morgen geht der Fürst Hettore Gonzaga, für heutige Leser missverständlich als »Die AusgangssituationPrinz« angekündigt, in seinem Arbeitszimmer lustlos seinen Amtsgeschäften nach. Klage- und Bittschriften werden abgewiesen, bis eine Bittstellerin Emilia heißt. Der Name genügt, den Fürsten geneigt zu machen und ihn gleichzeitig in solche Unruhe zu versetzen, dass er alles liegen lassen und ausfahren will. Der gerade hereingegebene Brief einer Gräfin Orsina wird kaum zur Kenntnis genommen, geschweige denn gelesen. Dagegen ist der junge Fürst augenblicklich bereit, den Maler Conti zu empfangen und den gerade gefassten Plan auszufahren wieder aufzugeben.
2.–4. Auftritt:Der Maler Conti hat im Auftrag des Fürsten mit großem Aufwand ein Der Maler ContiGemälde der Gräfin Orsina, der Geliebten des Fürsten, angefertigt, das er nun übergeben möchte. Da die Liebe des Fürsten jedoch inzwischen erkaltet ist, kann dieser auch für das Porträt nichts empfinden. Dagegen ist er ganz begeistert von einem Bild, das Emilia Galotti, eine der »vorzüglichsten Schönheiten unserer Stadt«, zeigt, mit dem der Maler Conti aber »noch sehr unzufrieden« ist. Ohne über einen Preis zu verhandeln, kauft der Fürst beide Bilder, bestimmt das Gemälde Orsinas für die fürstliche Galerie und behält das andere bei sich in seinem Kabinett.
5. Auftritt:Vor sich selbst gesteht der Prinz ein, dass er mehr noch als das Kunstwerk die dargestellte Person selbst besitzen möchte.
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