Günter Grass
Im Krebsgang
Lektüreschlüssel XL
für Schülerinnen und Schüler
Von Theodor Pelster
Reclam
Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgabe:
Günter Grass: Im Krebsgang. Eine Novelle . München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 122016.
E-Book-Ausgaben finden Sie auf unserer Website
unter www.reclam.de/e-book
Lektüreschlüssel XL | Nr. 15452
2019 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2019
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961423-6
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015452-6
www.reclam.de
»[…] am 30. Januar 1945 begann, auf den Tag genau fünfzig Jahre nach der Geburt des Blutzeugen, das auf ihn getaufte Schiff zu sinken und so zwölf Jahre nach der Machtergreifung, abermals auf den Tag genau, ein Zeichen des allgemeinen Untergangs zu setzen.« (S. 11)
Drei Geschehen, die zeitlich weit auseinanderliegen und die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben, werden allein deshalb, weil sie sich jeweils »auf den Tag genau« am gleichen Der 30. Januar …Datum – nämlich am 30. Januar – ereigneten, in Beziehung gesetzt.
Im Mittelpunkt steht das »Schiff«: Am 30. Januar 1945 wurde das mit weit mehr als 7000 Menschen beladene … 1945: Der Untergang der Gustloff Passagierschiff Wilhelm Gustloff , das die vor den anrückenden russischen Truppen Flüchtenden über die Ostsee in den Westen Deutschlands bringen sollte, von einem russischen U-Boot torpediert und auf diese Weise versenkt. Dieses Ereignis, bei dem »mehr als fünftausend Menschen den Tod fanden«1, wird häufig als die »größte Schiffskatastrophe im Zweiten Weltkrieg«2 und als bitterster Beleg für das Schicksal der am Ende des Kriegs aus den Ostgebieten flüchtenden Deutschen angesehen. Wochen später – am 8. Mai 1945 – kapitulierte die deutsche Wehrmacht bedingungslos und der Krieg war für die Deutschen beendet.
Wilhelm … 1895: Geburt des »Blutzeugen« Gustloffs Gustloff, auf den das Schiff getauft war, wurde am 30. Januar 1895 in Schwerin geboren, war später »Landesgruppenleiter Schweiz der NSDAP« und wurde am 4. Februar 1936 von dem jüdischen Medizinstudenten David Frankfurter in Davos erschossen. Die Umstände genügten, ihn zum Märtyrer der nationalsozialistischen Bewegung zu erklären und ihn als Vorbild für treue Gefolgschaft und Führergehorsam zu empfehlen. Die Schiffstaufe war ein Propagandaakt unter vielen.
Mit der »… 1933: »Machtergreifung« HitlersMachtergreifung« ist die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 gemeint. Hitler und die Nationalsozialisten nutzten die Stellung des Regierungschefs systematisch zum Ausbau der nationalsozialistischen Herrschaft in und über Deutschland. Als »Machtergreifung« wird zudem der Prozess bezeichnet, der Deutschland durch eine Reihe von Gesetzen und Verordnungen in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum August 1934 in die Diktatur stürzte: »Am 20. August 1934 besaß Hitler die unumschränkte Macht in Deutschland. Als ›Führer und Reichskanzler‹ war er Staatsoberhaupt, Parteichef, Oberster Gerichtsherr und Oberbefehlshaber der Wehrmacht.«3 So lautet der historische Befund.
Nicht nur die Versenkung der Gustloff am 30. Januar 1945, sondern auch die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 wird in dem zu Beginn zitierten Satz als »Zeichen des allgemeinen Untergangs« angesehen. Da das Elend der Flucht als Folge des Krieges und letztlich als Konsequenz der Machtpolitik Hitlers zu erklären ist, sind die Anfänge des Untergangs eher in der »Machtergreifung« als in den Fluchtbewegungen der Deutschen zu sehen. Diese Deutung der geschichtlichen Zusammenhänge hat sich spätestens seit der Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker anlässlich des 40. Jahrestags der deutschen Kapitulation durchgesetzt, in der er unter allgemeinem Beifall sagte: »Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.«4
Der Erzähler von Im Krebsgang wird jedoch keine historische Darstellung und keinen Bericht im strengen Sinne des Wortes abliefern; er kündigt vielmehr eine »Novelle« an. Damit wählt er eine literarische Die literarische Formung zur NovelleForm, in der Ereignisse und Begebenheiten ganz unterschiedlicher Art gestaltet werden. Dem Erzähler einer Novelle wird empfohlen, »das Alltägliche […] so kurz als möglich abzufertigen«, stattdessen »bey dem Außerordentlichen und Einzigen zu verweilen.«5 Was aber als außerordentlich und einzig zu gelten hat, darüber entscheidet der Erzähler. Er wird das, was er erlebt und erfahren hat, zu dem in Beziehung setzen, was abstrahiert »deutsche Geschichte« genannt wird.
Im Mittelpunkt der Novelle Im Krebsgang steht jene »Katastrophe«, die sich am Ende des Zweiten Weltkriegs in der Ostsee ereignete: Dort wurde am 30. Januar 1945 die Wilhelm Gustloff versenkt – ein Passagierschiff mit einer Länge von 208,5 Metern und einer Breite von 23,5 Metern, das von den Nationalsozialisten als Urlaubs-Reiseschiff erbaut worden war und später als Fluchtschiff vor den anrückenden russischen Truppen dienen sollte. Eine zweite Katastrophe, die der Erzähler als »privates Unglück« (S. 88) bezeichnet, hat mittelbar mit diesem Ereignis zu tun.
Als Ich-Erzähler stellt sich der Journalist Paul Pokriefke vor, der bei mehreren bundesrepublikanischen Zeitungen gearbeitet hat und seit langem gedrängt wird, »diese Die Geschichte vom Untergang der Gustloff Geschichte« (S. 7) vom Untergang der Gustloff aufzuschreiben. Seit Jahren hat ihn seine Mutter, Ursula Pokriefke, von Kind an »Tulla« (S. 12) genannt, vergeblich gebeten, über das »Unglück« (S. 12) zu berichten. Erst als die lange zurückliegenden Ereignisse von Rechtsradikalen im Internet propagandistisch ausgeschlachtet werden, versucht der Erzähler herauszufinden, wer unter der Adresse »www.blutzeuge.de« anzutreffen ist und was es mit der »Kameradschaft Schwerin« auf sich hat (S. 8). Unterstützt wird er von einem »Namenlosen«, der über Informationen verfügt und ebenfalls Interesse hat, dass die Sache erforscht wird, aber selbst nicht in Erscheinung treten will.
Pokriefke überwindet sich, die gesamte Geschichte, die »vor mehr als hundert Jahren […] in der mecklenburgischen Residenzstadt Schwerin« (S. 7) begann, genau zu recherchieren.
Zunächst gibt er einen Überblick über die Lebensläufe: Gustloff, Frankfurter, MarineskoLebensläufe der Menschen, die am engsten mit der Geschichte des Schiffes verknüpft sind.
Er beginnt mit Wilhelm Gustloff, der am 30. Januar 1895 in Schwerin geboren wurde, früh in die Partei der Nationalsozialisten eintrat und in den dreißiger Jahren »Landesgruppenleiter der NSDAP« (S. 10) in der Schweiz wurde. In der schweizer Gemeinde Davos wird er am 4. Februar 1936 von dem Medizinstudenten David Frankfurter erschossen, der so die von Deutschen an Juden begangenen Grausamkeiten rächen will: »Ich habe geschossen, weil ich Jude bin« (S. 28). Wilhelm Gustloff gilt von nun an als »Blutzeuge der nationalsozialistischen Bewegung« (S. 29), dem zu Ehren Straßen, Plätze, Schulen und das neu erbaute Schiff benannt werden. Das Schiff ist wichtiges Propagandamittel der nationalsozialistischen »Kraft durch Freude«-Bewegung (abgekürzt: KdF). Es wird am Ende des Zweiten Weltkriegs durch den russischen U-Boot-Kapitän Alexander Marinesko, der 1913 in Odessa geboren wurde, zerstört. Marinesko wird dadurch zum »Helden der baltischen Rotbannerflotte« (S. 14). Die Geschichte der drei historisch bezeugten Personen Gustloff, Frankfurter und Marinesko bildet den äußeren Rahmen der Novelle.
Читать дальше