Erst im Moment ihres dramatischen Höhepunkts enthüllt die Erzählung Details aus dem Leben des Protagonisten, als dieser sich an mittelalterliche Minnebilder sowie an Bilder höfisch-galanter Szenen erinnert, die ihn »zu Hause in früher Objekte kindlicher PrägungKindheit« (S. 38) faszinierten, wenn er sie »an schwülen Nachmittagen in dem einsamen Lusthause unseres Gartens« (S. 39) betrachtete. Im Rahmen seiner wenigen Reminiszenzen erwähnt Florio auch zum ersten und einzigen Mal seinen Florios VaterVater. Dieser habe ihm oft »manch lustiges« und wohl auch amouröses »Abenteuer« erzählt, »das ihm auf seinen jugendlichen Heeresfahrten […] begegnet« (S. 39) sei. Danach sei der Vater »gewöhnlich lange Zeit nachdenklich in dem stillen Garten auf und ab« (S. 39) gegangen.
Im Gegensatz zu der zumindest anekdotischen Andeutung der Jugenderinnerungen seines Vaters findet die Die MutterMutter überhaupt keine Erwähnung. Diese erzählerische Leerstelle gibt Anlass zu Spekulationen über das Ausmaß ihrer Bedeutung in Florios jungem Leben, das ja im Hinblick auf sein Frauenbild im extremen Spannungsfeld zwischen grenzenlosem Begehren und panischer Todesangst steht.
Der paradoxe Ambivalentes FrauenbildDualismus von Ekstase und Horror lässt sich beispielhaft an jener Mondnacht-Szene illustrieren, in der er erstmals das »marmorne[] Venusbild« (S. 15) entdeckt und »wie eingewurzelt im Schauen« stehenbleibt, denn
»ihm kam jenes Bild wie eine lang gesuchte, nun plötzlich erkannte Geliebte vor, wie eine Wunderblume, aus der Frühlingsdämmerung und träumerischen Stille seiner frühesten Jugend heraufgewachsen. Je länger er hinsah, je mehr schien es ihm, als schlüge es die seelenvollen Augen langsam auf, als wollten sich die Lippen bewegen zum Gruße, als blühe Leben wie ein lieblicher Gesang erwärmend durch die schönen Glieder herauf. Er hielt die Augen lange geschlossen vor Blendung, Wehmut und Entzücken. –« (S. 16)
Reagiert Florio hier auf die Vision der Verlebendigung einer steinernen Frauenstatue mit einem rauschhaften Schwebezustand der eigenen Erstarrung und FluchtErstarrung, so endet die erotische Überwältigung durch die nackte Schöne in einer eiligen Flucht, als »das Venusbild« auf einmal »fürchterlich weiß und regungslos« erscheint und ihn »fast schreckhaft mit den steinernen Augenhöhlen aus der grenzenlosen Stille« (S. 16) ansieht.
Seine eigentliche Bedeutung erwächst dem Florio als AntiheldHelden hier also nicht aus der eigenen, im Dunkel bleibenden Vergangenheit, sondern aus der Gegenwärtigkeit seiner Abenteuer. Deren auffälligste Besonderheit ist zugleich, dass sie nicht in der aktiven ritterlichen Auseinandersetzung, sondern in der primär passiven Begegnung mit übermächtigen Kräften bestehen. Florio ist kein kriegerischer Kämpfer mehr, der sich noch in der Tradition des mittelalterlichen Ritters für die Verteidigung eines (vermeintlich) christlichen und sozialen Wertekatalogs einsetzt, sondern er ist ein ganz und gar unheroischer Mensch, welcher der eigenen Triebhaftigkeit ausgesetzt bleibt, bis er sie in einem äußersten Moment der drohenden Selbstvernichtung überwindet. Erst mit den flehentlichen Worten »›Herr Gott, lass mich nicht verloren gehen in der Welt!‹« (S. 40) gelingt es ihm, sich aus dem alptraumhaft-zerstörerischen Sog der Selbstpreisgabe an die Erotik des Schönen und Lustvollen zu befreien.
Wie in einem Entwicklungsroman durchläuft die Hauptfigur einen Prozess der Auf dem Weg zum ErwachsenseinReifung vom naiven Romantiker und süchtigen Erotomanen zum bindungs- und beziehungsfähigen Realisten. Ist Florio zu Beginn ein junger und unerfahrener Mann, der »unschuldig in die dämmernde Welt« (S. 3) hinaussieht und in Italien, dem »Land der Poesie«, die Erfüllung seiner sentimentalen Sehnsucht nach Ferne und Glück zu finden glaubt, so öffnen sich ihm erst am Ende die Augen, als er in dem »zierliche[n] Knabe[n]« (S. 48), der die Reisegruppe nach Mailand begleitet, »mit Erstaunen Fräulein Bianka« Erkenntniserkennt: »Mit Wohlgefallen ruhten Florios Blicke auf der lieblichen Gestalt. Eine seltsame Verblendung hatte bisher seine Augen wie mit einem Zaubernebel umfangen. Nun erstaunte er ordentlich, wie schön sie war!« (S. 48)
Der »Blöde[ ]« (S. 6), wie der Erzähler Florio anfänglich einmal nennt, nimmt die neue Welt, in die er aufgebrochen ist, wie ein Kind vor allem ›mit Erstaunen‹ wahr (S. 4 f., 11, 13), bevor er schließlich nach der ersten Begegnung mit dem Venusbild in einen Chaos der GefühleZustand der inneren und äußeren Destabilisierung gerät. Im rauschhaften Dreiklang von »Blendung, Wehmut und Entzücken« (S. 16) schwankt er von nun an zwischen »blühende[n] Träume[n]« (S. 21) und »Grausen« (S. 16). So erblickt er beispielsweise auf einmal in der ›Griechin‹ (S. 26 ff.) das Doppelgesicht von Liebe und Tod: »Es war die wunderbare Schöne, deren Gesang er in jenem mittagschwülen Garten belauscht. – Aber ihr Gesicht, das der Mond hell beschien, kam ihm bleich und regungslos vor, fast wie damals das Marmorbild am Weiher.« (S. 31)
Erst nach einer längeren krisenhaften Phase der inneren Blindheit und SehenDesorientierung und Blindheit gelangt er zum Bewusstsein der Realität, die er zuvor übersehen oder verkannt hat. Indem er mit einem Mal Bianka als Person ›erkennt‹, erkennt er auch ihre existenzielle Bedeutung für seine eigene Person (S. 48 f.).
Ein »der Seltsame«, ein EinzelgängerPorträt dieses »hohe[n] schlanke[n] Ritter[s] in reichem Geschmeide« (S. 11) muss sehr lückenhaft bleiben, weil konkrete Angaben zu seiner Person weitgehend fehlen. Über die Selbstauskunft Donatis hinaus, dass er Eigentümer eines Landhauses sei (S. 13), beschränken sich die Informationen vor allem auf den asozialen Charakter dieses bedrohlich wirkenden Mannes. »In die […] Gesellschaft«, so erklärt der Erzähler, scheint Donati »nirgends hineinzupassen«, weil eine »ängstliche Störung, deren Grund sich niemand anzugeben wusste, [...] überall sichtbar« (S. 11 f.) wurde. Gleichwohl erweist er sich zugleich auch als »ausnehmend beredt[er]« (S. 11) und »freundlicher« (S. 12) Ritter mit einer »feinen und besonnenen Anständigkeit« (S. 13), der »lächelnd und mit der gewohnten Zierlichkeit« (S. 13) die Konventionen der Fassade höfischer UmgangsformenHöflichkeit respektiert.
Dass es sich bei dem Fremden trotzdem um eine Gestalt mit pathologischen Zügen handelt, legen schon die zahlreichen negativen Aussagen über sein äußeres Ein Mann mit krankhaften ZügenErscheinungsbild nahe, das sich vor allem auf das »blass[e] und wüst[e]« (S. 11) Gesicht konzentriert, das später auf einmal noch »viel bleicher und schauerlicher als vorher« (S. 12) ist. Mitunter sieht er »fast wie ein Toter aus.« (S. 22) In einem dramatischen Moment fahren, wie es hier in der Bildsprache der Gefühle heißt, ein »funkelnder Zornesblitz [...], fast verzerrend, über das Gesicht des Reiters [Donati] und ein wilder, nur halbausgesprochener Fluch aus den zuckenden Lippen« (S. 12 f.). Die Aufmerksamkeit des Erzählers gilt ganz besonders Donatis Augen: »Sein Blick aus tiefen Augenhöhlen« wirkt in unterschiedlichen Situationen »irre flammend« (S. 11) oder »fremd, stier und wild« (S. 12). Wahnsinn, animalische Triebnatur und Chaos verdichten sich hier zum Gesamteindruck der Unmenschlichkeit einer literarischen Gestalt aus dem Figureninventar der Schauerromantik. Ihr spezifisches Attribut ist das Pferd, das sich im Handlungsverlauf mitunter wild aufbäumt (S. 12) oder »schnaubend den Boden« (S. 22) scharrt.
Neben den zitierten Manifestationen einer kaum mehr beherrschten Aggressivität gibt es solche einer unkontrollierten Physiognomie des GrauensAngst, die den fremden Ritter mehrfach die Flucht ergreifen lässt, wenn er sich offenkundig bedroht fühlt (vgl. S. 13 und 25).
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