Während er – nun wieder alleine – durch den Garten des Landhauses streift, vernimmt er auf einmal ein Lied, das von einem Brunnen aus erklingt. Als er die Sängerin entdeckt, meint er, in ihr die junge Rollenvervielfältigung der FrauFrau wahrzunehmen, mit der soeben noch getanzt hatte. Eine nähere Überprüfung seiner Vermutung ist allerdings nicht möglich, weil die unbekannte Person die Flucht ergreift. Erst im weiteren Verlauf der Nacht wird er wieder die »schöne Griechin« (S. 29) erblicken und sie nach ihrem Namen fragen. Anstatt ihre Identität preiszugeben, weicht die Fremde einer klaren Antwort aus, indem sie Andeutungen macht, dass eine entsprechende Auskunft nur negative Folgen haben würde. Nichtsdestotrotz lädt sie Florio ein, sie in ihrem Haus zu besuchen und sich von Donati den Weg dorthin weisen zu lassen. Indem sie dabei den Schleier von ihrem Gesicht zieht, erkennt Florio in ihr »die wunderbare Schöne, deren Gesang er in jenem mittagschwülen Garten belauscht« (S. 31) hat; zugleich aber erinnert ihn das »bleich und regungslos« (S. 31) wirkende Gesicht an das Marmorbild, das ihn zuvor am nächtlichen Weiher mit »Grausen« (S. 16) erfüllt hatte. Auch diesmal mischt sich in Florios »Staunen [und] Freude« ein »heimliche[s] Grauen« (S. 31), während die fremde Frau in der Nacht verschwindet.
Unter der Führung Fortunatos, den er bald darauf im Garten antrifft, gelangt er auf das Dach der Villa, wo er unter den mittlerweile nur noch wenigen Gästen die junge Griechin erblickt, die beim Anblick der Rose an seiner Brust errötet. Er erfährt, dass sie Bianka heißt und die Nichte des Hausherrn Pietro ist, mit dem Florio einige Zeit zuvor schon ein kurzes Gespräch geführt hatte. Unvermittelt beschreibt sie die nächtlichen Wolken über ihnen mit dem gespenstischen Bild einer Beschwörung des Bösenbedrohlichen Welt, innerhalb derer ein weißes Haus zu erkennen sei, das in ihren Augen wie ein Marmorbild aussieht.
Auf dieses Schlüsselwort hin verabschiedet Florio sich eilig, um in seine städtische Unterkunft zurückzukehren. Es ist ihm nicht bewusst, dass er Bianka, die ihn nach den Worten des Erzählers Unglückliche Liebeliebt, durch sein rücksichtsloses Verhalten in tiefe Verzweiflung gestürzt hat. Stattdessen richtet sich sein ganzes Denken, Fühlen und Sehnen auf die marmorne Venusfigur seiner Erinnerung. Mehrere Tage später kündigt ihm der Ritter Donati tatsächlich die Ankunft der Dame an und teilt ihm mit, dass man sie noch am selben Tag gemeinsam in ihrem Palast besuchen wolle.
Dort ist er ganz fasziniert von der gleichsam paradiesischen Szenerie, in deren Im Zentrum des LiebesschlossesZentrum ihn die schöne Dame durch ihre vollkommene Schönheit und Sinnlichkeit verzaubert. Im Verlauf der einbrechenden Nacht führt sie ihn »in das Innere ihres Schlosses« (S. 37), wo er bald mit ihr allein ist. Doch in dem Augenblick, in dem er gerade der Verführung durch die Frau endgültig zu erliegen droht, vernimmt er im Garten und offenkundig aus dem Mund des Sängers Fortunato »ein altes frommes Lied« (S. 38), das er noch aus seiner Kindheit kennt. Es ist der Auftakt für eine Reihe von Von der Verzückung zur ErnüchterungErinnerungsbildern an zuhause, wo er schon als Junge das, was er nun als junger Mann erlebt, in den Abbildungen, die in seinem familiären Umfeld vorhanden waren, geschaut hatte. Während er sich auf die damit verbundenen Jugendträume von Frauen, Rittern, Gärten und Städten zurückbesinnt, entfremdet er sich von seiner gegenwärtigen Situation, so dass ihn nun die betörenden Worte der schönen Frau so sehr ängstigen, dass er in einem spontanen Gebet Gott anfleht, ihn »in der Welt« »nicht verloren gehen« (S. 40) zu lassen.
Von diesem Punkt an verkehren sich die vormaligen erotischen Verheißungen des Schlosses und seiner Herrin in eine monströse DesillusionWelt, in der Florio sich alptraumhaften, mit Todesgefahren verbundenen Szenen ausgesetzt sieht. Voller Entsetzen flieht er vor die Tore der Stadt und in »eine prächtig klare Sommernacht« (S. 41) zurück. In einem letzten, ihn zutiefst verstörenden Erlebnis entdeckt er, dass Donati und dessen Landhaus von dem Ort verschwunden sind, an dem sie vordem noch zu finden waren. So kann er den Ritter nicht mehr zu seinen zugleich lustvollen und gespenstischen Erlebnissen während der vorausgegangenen Nacht befragen. Indem nun die »unbeschreibliche Schönheit der Dame« (S. 42) in eine unerreichbare Ferne rückt, versinkt Florio vorübergehend in einen Melancholie – Schwebezustand der GefühleZustand unerfüllter Sehnsucht und Traurigkeit.
Am Morgen nach diesen Ereignissen verlässt er Lucca zunächst alleine, doch fordern ihn schon bald drei weitere Reiter auf, sich ihnen zu einer Italienreise anzuschließen. Es sind dies der Sänger Fortunato sowie Biankas Onkel Pietro und ein Jugendlicher. Auf ihrem gemeinsamen Weg wird Florio auf eine Schlossruine hingewiesen. Ein Weiher und ein zertrümmertes Marmorbild daneben lassen ihn diesen Ort als Schauplatz seiner vergangenen Erlebnisse wiedererkennen.
Das Lied, das Fortunato daraufhin anstimmt, handelt von der Verwandlung der antiken Liebesgöttin in die christliche Figur der Göttin der Lust – GottesmutterMuttergottes mit ihrem Kinde. In einem Kommentar zu diesem Lied erzählt Fortunato vom schrecklichen Schicksal derjenigen jungen Menschen, die immer wieder den teuflischen Versuchungen im Bezirk des Venustempels erliegen.
Kurz darauf erkennt Florio in dem ihm bislang unbekannten »Knaben« (S. 43), der die Gruppe begleitet, die junge Bianka, von der er nun erfährt, dass sie in eine tiefe Schwermut gefallen sei, nachdem er, Florio, ihre Liebe zu ihm unerwidert gelassen hatte. Jetzt aber entbrennt er seinerseits in Happy EndLiebe für sie und bezeichnet sie als seine Retterin: »›Ich bin wie neu geboren, es ist mir, als würde noch alles gut werden, seit ich Euch wiedergefunden. Ich möchte niemals wieder scheiden, wenn Ihr es vergönnt.‹« (S. 49) Vereint reisen sie »in das blühende Mailand«.
Das Marmorbild handelt von einem jungen und im Leben unerfahrenen Die männlichen AkteureMann namens Hauptperson FlorioFlorio, der zwischen dem sehnsüchtigen Begehren nach der makellosen und keuschen Kindfrau Bianka als einer Vertreterin christlicher Tugendhaftigkeit und dem verführerischen Venusbild als einem Ausdruck heidnisch-antiker Erotik hin- und hergerissen ist. Die Marmorstatue der Liebesgöttin wird für Florio zum Fixpunkt seiner Gedanken, Gefühle und Fantasien.
Über den Hinweis hinaus, dass er »ein junger Edelmann« (S. 3) und kurz vor der Ankunft in Lucca ist, erhält der Leser kaum weitere biographische Wenige biographische InformationenInformationen über den »schönen Jüngling[ ]« (S. 3), der im Zentrum der Novelle steht. Obwohl er einen hohen sozialen Stand einnimmt, bleibt Florios Familienname ebenso unbekannt wie die näheren Umstände, unter denen er »[a]uf dem Lande in der Stille« (S. 4) aufgewachsen ist, bevor er schließlich in die Ferne aufbrach. Das Geheimnis seiner Abstammung und seiner Herkunft erschließt sich auch nicht aus den Angaben des fremden Ritters Donati, der behauptet, in Florio »einen früheren Bekannten« (S. 11) wiederzuerkennen. Wenn Donati auch »über mancherlei Begebenheiten aus Florios früheren Tagen« (S. 11) zu berichten weiß, so verzichtet der Erzähler doch darauf, diese zu konkretisieren.
Abb. 4: Schenk Konrad von Limpurg bekommt von einer Dame einen Helm überreicht. Illustration aus der Manessischen Liederhandschrift, 14. Jahrhundert (Universitätsbibliothek Heidelberg)
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