Heinrich von Kleist
Lektüreschlüssel XL
für Schülerinnen und Schüler
Von Mathias Kieß
Reclam
Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgabe:
Heinrich von Kleist: Das Erdbeben in Chili. Hrsg. von Martin C. Wald. Stuttgart: Reclam 2019. (Reclam XL. Text und Kontext, Nr. 19409.)
Diese Ausgabe des Werktextes ist seiten- und zeilengleich mit der in Reclams Universal-Bibliothek Nr. 8002.
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Lektüreschlüssel XL | Nr. 15528
2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2021
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961825-8
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015528-8
www.reclam.de
Autor |
Heinrich von Kleist, geb. 18. Oktober 1777 in Frankfurt (Oder), gest. 21. November 1811 am Kleinen Wannsee, Berlin |
Entstehungszeit und Veröffentlichung |
Entstehung vermutlich 1806 Erstveröffentlichung im Morgenblatt für gebildete Stände , einer Literaturzeitschrift der Cotta’schen Verlagsbuchhandlung im Jahr 1807 (unter dem Titel: Jeronimo und Josephe. Eine Scene aus dem Erdbeben zu Chili vom Jahr 1647 ) 1810 Veröffentlichung im Band Erzählungen (unter dem heutigen Titel) |
Gattung |
Erzählung/Novelle |
Handlung |
Eltern eines unehelichen Kindes entgehen dank eines Erdbebens ihrer Strafe und werden im Anschluss von einer wütenden Meute getötet. |
Handlungszeit |
Zwei Tage und eine Nacht, mit zwei Rückblenden |
Handlungsorte |
St. Jago, Hauptstadt des Königreichs Chili (Santiago, Chile), und Hügel vor der Stadt |
Heinrich von Kleist wurde nur 34 Jahre alt. Zu seinen Lebzeiten kommt seine literarische Karriere nur schwer ins Rollen. Zwar schreibt er einige mehr oder weniger bekannte Dramen, aber er schafft es nicht, Förderer für sich zu gewinnen oder Kritiker von sich zu überzeugen. Nachdem er sich 1811 am Kleinen Wannsee das Leben nimmt, dauert es noch bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, bis seine Werke wiederentdeckt und von der Kritik Kleists literarischer Erfolggelobt werden. Oft erhalten die Dramen den Vorrang vor den Erzählungen und finden schnell den Eingang in den Kanon der Schulliteratur.
Erst viel später ist dies auch den Erzählungen vergönnt. Besonders die kunstvollen und informationsreichen Schachtelsätze machen ihren Charme aus, und dank der relativen Kürze der Prosa eignen sie sich gut für den Deutschunterricht. Auch Kleists Das Erdbeben in Chili Erzählung Das Erdbeben in Chili ist nicht sehr umfangreich und kann in wenigen Unterrichtsstunden behandelt werden. Trotzdem gelingt es Kleist, mehrere philosophische Themen parallel zu behandeln und seine Leserinnen und Leser von Beginn an zu fesseln.
Die Erzählung spielt im Jahre 1647 und wurde 1807 in der Literaturzeitschrift Morgenblatt für gebildete Stände veröffentlicht. Demnach liegen etwa 160 Jahre zwischen der behandelten Zeit und der Gegenwart des Autors. Die Literaturwissenschaft spricht in einem solchen Fall von einer Doppelte Historizitätdoppelten Historizität. Wollen Leserinnen und Leser aus dem 21. Jahrhundert das Werk in Gänze verstehen, so müssen sie sowohl mit den Besonderheiten der Mitte des 17. Jahrhunderts als auch mit den Besonderheiten des beginnenden 19. Jahrhunderts ein wenig vertraut sein.
Tatsächlich gab es im Jahr 1647 in Chile (in der Erzählung: »Chili«) ein Das Erdbeben von LissabonErdbeben, das auch die Hauptstadt Santiago (in der Erzählung: »St. Jago«) getroffen hat. Geistesgeschichtlich bezieht sich Kleist jedoch auf das Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755. Nach dieser Naturkatastrophe gab es zahlreiche Debatten in Philosophie und Theologie, die sich der Frage nach einem gerechten Gott und dem Sinn von Religion im Allgemeinen widmeten. Dieses Erdbeben fand direkten Eingang in die Schriften von Voltaire, Rousseau und Kant und beeinflusste Literaten bis zur Jahrhundertwende zum 19. Jahrhundert.
Kleists Erzählung ist nicht weiter in Kapitel, jedoch in der diesem Lektüreschlüssel zugrunde liegenden Ausgabe in 31 Absätze unterteilt (zur Absatzeinteilung verschiedener Textfassungen siehe Kapitel »Form und literarische Technik«, S. 54). Diese durch den Autor vorgegebene Einteilung hilft bei einer inhaltlichen Annäherung an die Erzählung kaum, da die Absätze zu zahlreich sind. Deshalb soll hier eine Einteilung in sieben Sinnabschnitte erfolgen, die zwar unterschiedlich lang sind, aber jeweils einem neuen Handlungsteil entsprechen.
(1) Erster Satz (S. 5, Z. 2 – S. 5, Z. 8)
»In St. Jago, der Hauptstadt des Königreichs Chili, stand gerade in dem Augenblicke der großen Erderschütterung vom Jahre 1647, bei welcher viele tausend Menschen ihren Untergang fanden, ein junger, auf ein Verbrechen angeklagter Spanier, namens Jeronimo Rugera , an einem Pfeiler des Gefängnisses, in welches man ihn eingesperrt hatte, und wollte sich erhenken.« (S. 5)
In nur einem – wenn auch sehr langen – Satz gelingt es Kleist, Handlungszeit und -ort, eine der Hauptfiguren und die Ausgangssituation zu benennen. Und diese hat es in sich: Ein junger Sträfling will sich selbst töten, als ein Erdbeben einsetzt. Unweigerlich drängen sich den Leserinnen und Lesern Zwei Fragenzwei Fragen auf. Wie kam der Mann in diese Situation? Und wie wird sie sich auflösen? Die erste Frage betrifft die Vergangenheit und Gegenwart des Häftlings. Man will erfahren, welches Verbrechen er begangen hat und warum er sich umbringen will. Die zweite Frage betrifft seine Zukunft. Die Leserinnen und Leser fragen sich, wie es ihm ergehen wird, ob er sich befreien kann, ob er weiterhin an seinem Wunsch zu sterben festhalten wird.
(2) Die Vorgeschichte (S. 5, Z. 8 – S. 6, Z. 31)
Nach diesem komprimierten Beginn erhalten die Leserinnen und Leser zunächst Antworten auf den ersten Fragenkomplex. Um Spannung aufzubauen, erzählt Kleist zunächst die Vorgeschichte des Protagonisten. Jeronimo war Hauslehrer bei einem der reichsten Adligen der Stadt und wird entlassen, weil er eine Affäre mit der Tochter des Hauses, Josephe, hat (S. 5).
Josephe im KlosterJosephe wird von ihrem Vater in ein Kloster geschickt. Doch Jeronimo findet weiterhin Wege, sie zu treffen. Josephe wird schwanger und ihre Wehen setzen während der Feierlichkeiten zu Fronleichnam ein. Hat sie es bisher anscheinend geschafft, ihre Schwangerschaft geheim zu halten, so erregt sie nun »außerordentliches Aufsehn« (S. 5) und wird ohne Rücksicht auf ihren Zustand in ein Gefängnis gesperrt. Eine schwangere Nonne ist ein Skandal zu dieser Zeit, und der Erzbischof macht ihr gleich nach der Entbindung ihres Kindes den Prozess. Weder ihre einflussreiche Familie noch die ihr gut gesinnte Klostervorsteherin schaffen es, die Todesstrafe für Josephe abzuwenden. Lediglich der Feuertod soll ihr erspart bleiben, denn der Vizekönig setzt sich dafür ein, dass Josephe enthauptet werde. So ist der Verurteilten zumindest ein schneller Tod vergönnt (S. 6).
Verglichen mit seiner Geliebten ist es Jeronimo relativ gut ergangen. Er wurde lediglich ins Jeronimo im GefängnisGefängnis gesperrt. Dort erfährt er vom Schicksal Josephes, denn die Hinrichtung ist ein großes Event. Fenster und Dächer, von denen aus man einen guten Blick auf das Geschehen hat, werden vermietet, und die »frommen Töchter der Stadt luden ihre Freundinnen ein« (S. 6). Jeronimo misslingen Ausbruchsversuche und so beschließt er, zeitgleich mit seiner Geliebten durch die eigene Hand zu sterben.
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