Ein Taxi holte ihn dann aber tatsächlich ab, der restliche Reiseplan wich von der offiziellen Ehegeschichte jedoch erheblich ab. Der echte Plan sah vor, zunächst zum Bahnhof zu fahren, dann den Zug nach Hamburg zu nehmen, von dort weiter – ebenfalls per Bundesbahn – nach Flensburg, von wo aus wiederum ein Zug über Niebüll und den Hindenburgdamm nach Sylt ging. Hier wieder ein Taxi bis nach List ganz im Norden der Insel und dann mit der Fähre rüber nach Rømø, die dänische Insel, auf der Pfeffer für eine Woche ein kleines Ferienhaus direkt am Strand gemietet hatte. Dort wollte er dann auch ein Auto kaufen, mit dem er später zurück nach Deutschland fahren würde. EG, EWG, barrierefrei, innereuropäisches Grenzregime, alles kein Problem. Auf dem Rückweg würde er dann in Flensburg halten, wo er bereits einen Termin zur „Allgemeinen ärztlichen Untersuchung“, vereinbart hatte, für den er, ganz der Lebemann, als Grund angegeben hatte, er wolle eine Lebensversicherung in nicht unbeträchtlicher Höhe abschließen und bräuchte dafür ein ärztliches Zeugnis. Er hatte sich überlegt, diese Untersuchung lieber nicht in Bremen machen zu lassen. Die Hälfte der Ärzte dort wusste nämlich um seinen zweifelhaften Lebenswandel, und die andere Hälfte hatte ihn deswegen schon krankschreiben müssen, wenn er wieder mal einen seiner großen Abstürze hatte. Weil es ihm aber jedes Mal in Nachhinein peinlich war, wenn er völlig zerknittert nach einer langen Nacht beim Arzt erscheinen musste, hatte er die Praxen immer alterierend gewechselt, so dass er nach einigen Jahren medizinisch nirgendwo mehr ein unbeschriebenes Blatt sein konnte. Ach ja, der Pfeffer. Na, wieder Genosse Vollski getroffen? Ja, ja, können mich alle am Arsch lecken. Aber hin zu diesen Ärzten, um sich durchchecken zu lassen – das ging dann doch zu weit. Der Trost war immerhin, dass es ja nie wirkliche Krankheiten waren, weswegen er sich hatte arbeitsunfähig schreiben lassen. Er konnte morgens nur einfach die Augen nicht aufkriegen und fuhr mächtig Karussell. Wie sollte man denn auch in einem solchen Zustand arbeiten? Also gelben Schein her, Du Quacksalber! Wie auch immer, er hatte jedenfalls keinen Grund, sich wegen der nun anstehenden Untersuchung in Flensburg Gedanken zu machen.
Die Woche auf der dänischen Insel verbrachte er tatsächlich in völliger Ruhe und Abgeschiedenheit. Er hatte sich einige Bücher eingepackt, zweimal Konsalik, zweimal Brecht, da er meinte, beide Seiten der Waage müssten gleich gefüllt sein. Er verbrachte die Tage ohne einen Tropfen Alkohol, nicht einmal seinen kleinen Flachmann, der ihm über die Jahre ein treuer Weggefährte geworden war, hatte er dabei. Und an etwaige Eskapaden war auf dem verlassenen Eiland sowieso nicht zu denken. Schon nach wenigen Tagen stellte Rick Pfeffer fest, dass er sich so gut fühlte, wie schon lange nicht mehr. Die Bücher hatte er nach wenigen Tagen ausgelesen, er war völlig klar und fühlte sich so frisch wie der Wind, der ihm bei seinen morgendlichen Strandspaziergängen um die Nase wehte. „Der Müller weiß, wovon er redet“, sagte er ein ums andere Mal zu sich und verspürte dabei eine ehrliche innere Dankbarkeit für diesen Aufenthalt. Als die Woche vergangen war, fühlte er sich wie neugeboren. Wie einmal runderneuert. Hallo. Ebenfalls Hallo. Was darf’s denn sein? Lohnt eine Generalinspektion noch? Ist ein älteres Modell. Ja, sie lohnte noch und er war in herausragender Form, als er seinen Urlaub beendete und die Heimreise antrat. Jetzt machte er sich noch weniger Gedanken wegen des Arzttermins und erwog sogar, ihn gänzlich abzusagen. Ginge schon. Andererseits: Befehl war nun einmal Befehl. Und er konnte es gleichzeitig als Möglichkeit nutzen, bei Müller endlich einmal zu punkten. Hier, Herr Oberleutnant. Kerngesund und alles erledigt. Toll gemacht! Oder so ähnlich. Jetzt musste nur noch ein Auto her, und dieser vermeintlich leichte Teil des Plans erwies sich als der erheblich schwierigere. Auf der ganzen Insel gab es keinen Autohändler und von Privat hätte er nicht kaufen können wegen der Zulassung, der Nummernschilder und so weiter. Also musste er noch einmal Geld tauschen, eine Zugverbindung nach Flensburg auskundschaften und dort zuschlagen. Das ärgerte ihn. Nicht, weil er Zeit und Geld verlor, sondern, weil er nicht daran gedacht hatte, zu überprüfen, ob es überhaupt einen Autohändler vor Ort gab. Grimmig nahm er die Bahn nach Flensburg, stieg am Bahnhof aus, suchte sich ein Taxi und ließ sich zum erstbesten Gebrauchtwagenhändler der Stadt fahren, wo er schließlich doch noch sein Auto finden sollte. Und es musste natürlich ein Mercedes sein. Er kaufte einen 77er Mercedes 350SL. Der war zwar zehn Jahre alt und ziemlich kaputt, aber bei einem Mercedes-Cabriolet, das über 200 fährt und nur viertausend Mark kostet, konnte man schließlich nicht viel verkehrt machen. Außerdem war das Auto weiß, und wenn schon nicht Gold, so dachte sich Pfeffer, sollte es wenigstens weiß sein.
„Coupe wäre auch nicht schlecht gewesen, aber was soll’s! Nette Kabriolette!“ Er war zufrieden mit seinem Kauf und das Auto machte schon nach wenigen Sekunden richtig Spaß. So, nun aber weiter. Es gab schließlich noch viel zu tun.
VI.
Er hatte sich die Adresse der Klinik aufgeschrieben und fuhr nun erst zur Tankstelle und dann quer durch die Stadt, bis er auf einem großen Parkplatz vor dem geklinkerten achtstöckigen Gebäude seinen neuen Mercedes abstellte.
Richard genannt Rick Pfeffer musste einige Zeit suchen, aber schließlich fand er in dem verschlungenen Gebäude endlich eine Art Rezeption, von wo aus man ihn an die Innere Medizin verwies. Auch diese fand er nach einiger Zeit und meldete sich ordnungsgemäß bei einer der Schwestern an.
„Guten Tag schöne Frau, ich begrüße Sie.“ Pfeffer ließ seinen bekannten Charme spielen.
„Ich grüße Sie auch“, sagte die Schwester lächelnd. „Kann ich etwas für Sie tun?“
Pfeffer überlegte kurz, ob er dies mit einer schlüpfrigen Geste bejahen sollte, entschied sich aber, seriös zu bleiben. Dienst ist schließlich Dienst und Schnaps Schnaps.
„Ich befürchte nicht“, sagte er mit in Falten gelegter Stirn. „Ich habe einen Termin beim Doktor. Um 14 Uhr, zum Durchchecken, wegen meiner Lebensversicherung, wissen Sie. Pfeffer, Richard Pfeffer. Aber sagen Sie ruhig Rick.“
Die Schwester schlug einen Terminkalender mit biblischen Ausmaßen auf und fuhr mit dem Finger die Eintragungen ab, schaute dabei mäßig angestrengt und sagte schließlich „Hier haben wir Sie, Herr Pfeffer. Und pünktlich ist er auch noch. Na, dann kommen Sie mal mit.“ Noch während sie sprach, war Sie ihm schon einen Schritt voraus und Rick Pfeffer ging direkt hinter ihr her. Folgsam und brav. Eigentlich wie ein Labrador. Nur dass er nicht an Ihrem Hinterteil schnüffelte. Obwohl ... Husch, weg mit diesen Gedanken! Er stellte fest, dass das Inselleben endgültig vorbei war und sagte Guten Tag zu den Schlüsselreizen der Zivilisation. Verdammt auch! Aber eins nach dem anderen. Sie gingen einen endlosen, leeren Gang hinunter, der sich scheinbar über die ganze Etage zog. Pfeffer kam es vor, als sei eine Ewigkeit vergangen, als sie endlich vor einer Tür standen und die Schwester diese öffnete.
„Nehmen Sie schon mal Platz, Herr Pfeffer. Dr. Bartholdy kommt dann gleich für die Anamnese zu Ihnen.“
Sie hielt ihm die Tür auf, während er sich bedankte und eintrat. Er fand sich allerdings nicht in einem Behandlungszimmer wieder, wie er es erwartet hatte. Offenbar war dies das Büro des besagten Dr. Bartholdy und offenbar hatte dieser Geschmack. Der Raum war stilvoll eingerichtet, wobei sich das klinische Weiß harmonisch ins Lichtgrau der Möbel mischte. Hell alles. Strahlend und einnehmend. Zentrum des Raumes war ein asketischer, ebenfalls weißer Schreibtisch, hinter welchem ein teuer aussehender Ledersessel geparkt war. Davor – ebenfalls mit Leder bezogen – zwei Stühle, deren Design an Clubsessel angelehnt war, deren Größe und Schwung jedoch die Hierarchie in dem Ensemble deutlich unterstrichen. An den Wänden hingen neben verschiedenen Diplomen auch die Approbationsurkunde, das Promotionszeugnis und die amtliche Urkunde zum bestellten Amtsarzt. Vor den Fenstern, in geräumigen Abständen, standen getopfte Pflanzen, die Pfeffer noch nie zuvor gesehen hatte. Waren die echt? Mit zwei Fingerspitzen an die Blüte gegrapscht. Echt. Jawohl. Und nun kaputt. So ein Mist. Er rupfte das beschädigte Blütenblatt heraus und ließ es in seiner Hosentasche verschwinden. Was noch? Alle Sinne waren im Suchmodus. Er stand vor dem Schreibtisch und wollte sich gerade setzen, dann entschied er sich aber doch dazu, die Entdeckungsreise durch das Büro fortzusetzen.
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