Der Kaiser ließ jedem von uns zwei Ballen Seide und etwas Lotuswurzelpulver überreichen.
5. Anm. d. Ü.:憂其所可恃,懼其所可衿。Zitat von Han Yu (768–824), chinesischer Dichter und Essayist, Wegbereiter des Neokonfuzianismus.
Beijing, 8. November 1766
Zwei Tage später rief mich der Kaiser in der Halle der drei Seltenheiten. „Du hast früher Schätze des österreichischen Prinzen begutachtet, nicht wahr?“ Der Kaiser nippte an einer Tasse heißen Tees, den ihm ein Hofeunuch gereicht hatte. „Was sammelt er?“ Die Teekanne, ein rot glasiertes Kännchen in der Form einer Mönchskappe, stammte mit Sicherheit aus der Ming-Dynastie.
Dass der Kaiser so genau über meine Vergangenheit Bescheid wusste, überraschte mich. Ich fühlte mich gleichzeitig geehrt, aber auch etwas beunruhigt.
„Besitzt er auch Porzellan?“ Der Kaiser schien eine ganze Reihe von Fragen zu haben.
„Ja, aber nicht sehr viel.“ Tatsächlich war ich mir diesbezüglich nicht sicher.
„Und was ist mit Jade?“, fragte der Kaiser weiter.
„Auch. Aber ebenfalls nur wenig.“ Nach meiner Erinnerung besaß er nur eine Blumenvase aus Jade. Oder vielleicht auch ein Schnupftabaksfläschchen. Aber auch da war ich mir schon nicht mehr sicher.
„Wir wünschen, dass du einige Edelsteine aus unserer Schatzkammer begutachtest.“ Der Kaiser sprach weiterhin langsam.
Ich wagte es nicht, meinen Kopf anzuheben und ihn anzusehen. Mit gesenktem Haupt und hängenden Armen nahm ich die kaiserliche Anweisung entgegen.
„Was benötigst du?“
„Was benötigst du?“ Zuerst dachte ich, der Kaiser fragt mich nach meinen Bedürfnissen für den Lebensunterhalt. Einen Moment war ich verwirrt, dann fing ich mich wieder und sagte prompt: „Ein Wasserbecken und Wasser. Außerdem könnte ein Mikroskop von Nutzen sein.“ In Macao hatte ich von einem Jesuiten gehört, dass frühere Missionare dem Kaiser von China Mikroskope dargebracht hatten. Sogar Teleskope, die in China „Tausendmeilenaugen“ heißen. Ich hatte aber auch gehört, dass die Kaiser diesen Geräten nicht viel Wert beimaßen und sie für Spielzeug hielten, das sie den kaiserlichen Söhnen und Enkeln gaben. Auf einmal bereute ich, dass ich meine Aufzeichnungen über Mineralien nicht mitgenommen hatte, als ich nach China aufgebrochen war.
„Gut. Sucht für ihn ein Mikroskop, gebt ihm ein Xingzou-Amt, bereitet ihm einen Platz im Quartier zum Glückszepter und verschafft ihm die Dinge, die er benötigt“, wies der Kaiser die Eunuchen an, die zu seiner Aufwartung bereitstanden. „Informiert die Vorsteher der Lager des Tores der westlichen Pracht und des Palastes der Pflege des Herzens über diese Begutachtung.“ Der Kaiser fuhr mit seiner Befragung fort: „Kennst du dich mit Jade aus?“
„Ein bisschen“, antwortete ich vage. Ähnelt eine solche Antwort nicht sehr denen der Chinesen um mich herum?
„Wir wollen, dass du als Erstes einige Gemmen aus der Schatzkammer des inneren Palastes bestimmst und jede einzelne fein säuberlich mit Namen notierst“, fuhr der Kaiser ohne Unterbrechung fort. „Dann werden wir dich weiter befragen.“
Der Kaiser wartete meine Antwort nicht ab und wies an, mich mit einer fellbesetzten Jacke auszustatten. Ein Hofeunuch trat flink an meine Seite und zischte: „Zeig Dankbarkeit!“
Unverzüglich kniete ich nieder und wartete, bis der Kaiser gegangen war. Ich stand nicht eher wieder auf, bis die Eunuchen mich dazu aufforderten. Eine Gruppe Eunuchen geleitete mich aus dem Palast. Mir kam es so vor, als ob sie mich neidisch beäugten.
In welche Situation war ich geraten? In kürzester Zeit hatte mir der Kaiser eine bedeutende Rolle zugedacht und ich muss nun hinaus auf die Bühne und sie spielen. Werde ich das Schicksal illoyaler Beamter teilen? Werden mir vielleicht beide Füße abgeschnitten, wenn ich den Kaiser nicht zufriedenstelle? Eigentlich dürfen nur Ausländer in den kaiserlichen Palast, die Maler, Ärzte, Astronomen oder Uhrmacher sind. Die meisten davon sind Missionare mit außergewöhnlichem Wissen und Talenten. Ich hingegen bin mit so wenig Aufwand in die Nähe des Kaisers gekommen, wie es braucht, um Asche wegzublasen.
Nachdem ich den Kaiserpalast verlassen hatte, suchte mich der apostolische Präfekt Le Febrve sofort in meiner Herberge auf. „In der Gemeindekirche bewahre ich noch ein Mikroskop auf, vielleicht kann Ihnen das von Nutzen sein?“ Der Präfekt war außergewöhnlich freundlich und sagte: „Wenn Sie wollen, können Sie sich in unserer Gemeinschaftsunterkunft niederlassen. Es müsste möglich sein, ein Zimmer für Sie freizuräumen.“ Ich stimmte dem Plan des Kirchenmannes sofort zu und schaffte mein Gepäck von der Herberge zur Kirche in der Stadt, wo neun Missionare sich eine gemeinsame Unterkunft teilten. Sie kelterten eigenen Wein und buken ihr eigenes Brot und Kuchen. So aßen sie das Essen ihrer Heimat, als ob sie noch immer in Europa lebten.
Unendlich geliebte Helena,
ein Wunder ist geschehen! Ich habe hier in Beijing den Brief erhalten, den Du mir vor einem Jahr geschrieben hast. Du kannst Dir nicht vorstellen, wie glücklich er mich macht! Ich stehe am Straßenrand und lese Deinen Brief wieder und wieder. Immer wieder lache ich vor Freude. Die Passanten halten mich schon für einen Irren.
Liebste Helena, auch wenn die Trennung so bitteren Kummer brachte, was könnte ich mir mehr wünschen, als zu erfahren, dass der geliebte Mensch mich immer noch liebt? Diese paar Zeilen von Dir haben mir meinen Gram erhellt! Wie eine Medizin haben sie mich von der Einsamkeit geheilt!
An diesen Tagen voller Einsamkeit habe ich nie aufgehört, an Dich zu denken, habe ich nie aufgehört, mich nach Dir zu sehnen. Wenn ich eines Tages von dieser Reise zurückkomme, sollten wir uns wieder treffen, sollten wir zusammenleben. Bis ans Ende allen Seins.
Kannst Du so lange auf mich warten? Oder kannst Du den verhassten Menschen an Deiner Seite verlassen und zu mir kommen? Ich kann Dir nicht viel bieten, aber mit ganzer Kraft werde ich alles für Dich herbeischaffen, was Du Dir wünschst. Ich werde Dein Sklave sein und nicht eher ruhen, bis Du glücklich bist.
Damit dieser Brief mit dem nächsten Schiff nach Europa geht, schließe ich mit den Versicherungen meiner tiefsten und leidenschaftlichsten Gedanken. Im nächsten Brief werde ich Dir von meinen Erlebnissen in China berichten.
Für ewig Dein, Wilhelm
Beijing, 6. Dezember 1766
In einem Pulk chinesischer Beamter wartete ich vor dem Palasttor. Nachdem ein Beamter des Ritenministeriums unsere Namen deklamiert hatte, führten mich einige Eunuchen endlich vor den Oberverwalter der Abteilung für innere Angelegenheiten, der mich in meine zukünftigen Pflichten im Quartier zum Glückszepter einweisen sollte. Noch bevor ich das Quartier betrat, sah ich ganz in der Ferne zwei Ausländer in langen chinesischen Gewändern, die vor einem Tor warteten. Es waren keine anderen als die Fratres Perrot und Attiret. An dem Morgen der Audienz beim Kaiser hatten wir keine Gelegenheit für ein Gespräch gehabt. „Du bist wirklich hier!“, stammelte Frater Attiret vor Aufregung. „Wie lange haben wir uns nicht gesprochen!“
„Wie hast du es eigentlich nach Beijing geschafft?“, fragte Perrot verwundert.
„Das ist eine lange Geschichte“, sagte ich leichthin. „Lasst es mich für den Augenblick noch für mich behalten.“ Als wir so sprachen, trippelte eine Gruppe Eunuchen an uns vorbei. Ihre Schritte waren so leicht und lautlos, als wären sie bloße Phantome. Ich war glücklich über das Erscheinen der zwei Missionare. Ich hatte wirklich nicht zu hoffen gewagt, dass wir uns je wieder begegnen würden. Frater Attiret hatte sich kein bisschen verändert, aber Frater Perrot war nicht mehr derselbe. Er war nicht mehr der Astronom, der auf dem Schiff unablässig Messungen mit seinem Oktanten angestellt hatte. Seine Leidenschaft schien verschwunden und er schürzte nun lieber die Lippen, als ohne Punkt und Komma über Astronomie und Navigation zu schwadronieren. Eine Last schien auf seiner Seele zu liegen.
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