Dieser Gerichtsfall verbreitete meinen Ruf nur noch weiter, bis sogar der wichtigste Experte für Porzellan in ganz China, der kaiserliche Manufakturaufseher Tang Ying, Interesse an mir bekam und jemanden nach mir schickte.
Jingdezhen, 8. Januar 1766
Ich wurde zu einem prächtigen Anwesen geführt. Tang Ying erwartete mich in der Empfangshalle. Er war ein freundlich wirkender, hinfälliger Greis mit einem langen Bart und von nicht sonderlich großer Statur.
„Wo kommen Sie her?“ Der alte Herr war tatsächlich sehr freundlich. Er bat mich, Platz zu nehmen und ließ Tee kommen.
„Ich komme aus Dresden im Kurfürstentum Sachsen“, sagte ich. „Kennen Sie die Porzellanmanufaktur Meißen?“, fuhr Tang Ying mit der Befragung fort. Mein Herz machte einen Satz. Was weiß dieser alte Mann? In meinen Ohren rauschte es. Kennt er mein Geheimnis? Das war wirklich die letzte Frage, die der alte Mann mir stellen sollte.
„Ich kenne die Porzellanmanufaktur Meißen, und auch ihre Waren sind mir vertraut, weil ich Porzellan liebe und mich sehr dafür interessiere“, zwang ich mich, gelassen zu antworten. Tang Ying fixierte mich.
„Wissen Sie, wie Meißen an das Geheimnis der Porzellanherstellung gelangt ist?“
Bevor ich herkam, war ich davon ausgegangen, dass mich der Porzellanexperte nach meinen Kenntnissen über chinesisches Porzellan befragen würde. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass er mich nach Meißen ausfragen würde. Ich musste lachen. Der alte Mann vor mir war der Experte unter den Experten, er saß auf dem Thron eines kaiserlichen Tutors und sah mich an. „Wer hat es gefunden? Und auf welche Weise?“ Tang Ying sprach sehr gleichmäßig und blieb im Übrigen völlig regungslos. Ich sah, dass einige an der Wand hängende Kalligrafien und Landschaftsbilder mit „Alter Mann im Schneckenhaus“ oder „Töpfer“ signiert waren. Ich vermutete, dass diese Werke von Tang Ying selbst stammten. Seine Kalligrafie war elegant und seine Tuschmalerei ungewöhnlich. Vor allem eine Kalligrafie erregte meine Aufmerksamkeit:
„Ob die Weidenstraße zum Haus des Keramikdirektors führt? Der Blumenzüchter gräbt einen Teich für seinen geliebten Lotus.“ Der alte Mann schrieb sogar Gedichte in lockerem Stil.
„Wenn wir von Meißen sprechen, müssen wir bei einem König beginnen, der ‚der Starke‘ genannt wird“, sagte ich in einer deutlich intonierten Weise, als spräche ich auf einer Bühne.
„Ich bin ganz Ohr“, sagte Tang Ying hustend. Jetzt bemerkte ich erst, dass der alte Herr wirklich erschöpft und indisponiert war.
„Anfang dieses Jahrhunderts wurden das Kurfürstentum Sachsen und das Königreich Polen von August II regiert, einem überschäumenden und ehrgeizigen König, der ‚der Starke‘ genannt wurde. Er verschrieb sich nicht nur den Wissenschaften, sondern widmete sich auch begeistert den schönen Künsten, wobei ihm seine Porzellansammlung am meisten am Herzen lag.“ Beim Erzählen über das ferne Europa und einen verblichenen König kam ich mir wie ein Märchenerzähler vor. Tang Ying lauschte mir aufmerksam. In diesem Raum stand eine Porzellanuhr, deren Pendel deutliche Geräusche machte. Aber das Porzellan selbst war so elaboriert, dass es sogar lebendiger wirkte als die Terrine des Schwanenservices, dem unvergleichlichen Meisterstück des Meißener Porzellanbildners Kändler. Die Uhr war in der Form einer europäischen Burg gearbeitet worden und sah nicht so aus, als sei sie in China gestaltet worden. Aber wer hatte sie dann gemacht?
„August der Starke liebte Porzellan. Allein im Turmzimmer seines Schlosses in Dresden unterhielt er eine Sammlung mit fast fünfzigtausend Stücken aus aller Welt“, fuhr ich mit meinem Bericht fort. „Er liebte Porzellan so sehr, dass er einst sogar mit dem preußischen König Friedrich Wilhelm I ein sächsisches Dragonerregiment gegen Porzellanvasen aus der Mingzeit tauschte. Aber das Geheimnis der Porzellanherstellung wurde nur per Zufall entdeckt.“
Tang Ying hustete erneut, aber es schien, als würde seine Neugier auf Europas Suche nach dem Porzellan wachsen. „Wie das?“
„Porzellan war für die herrschaftlichen Höfe Europas von großer Bedeutung. Geschirr, Teeservice und auch Service für Kaffee aus Porzellan dienten dazu, die Großartigkeit des Herrschers zu unterstreichen. Seit Porzellan aus dem Osten nach Europa gekommen war, wurde fieberhaft versucht, das Geheimnis der Herstellung des weißen Goldes zu lüften. Doch August der Starke brauchte für die Vision seines Reiches ausreichende Mittel für das Heer. Darum suchte er in erster Linie nach einem Alchemisten, der sich auf das Goldmachen versteht, und nur nebenbei nach einem Keramiker, der Porzellan herstellen kann.“
Tang Ying nickte leicht, als gestatte er mir wortlos, fortzufahren.
„Auf seiner dringenden Suche kam ihm ein aus Preußen entlaufener Alchemist gerade recht und er ließ ihn einsperren. Dieser junge Alchemist namens Böttger schlug in seiner Not August dem Starken vor, zunächst die Methode der Porzellanherstellung zu erforschen, um dadurch seine Freiheit zurückzugewinnen. Der Kurfürst stimmte zu. Schließlich kann man Porzellan für Geld verkaufen. Böttger verlangte sechsunddreißig Pfund Ton aus allen Ecken des Landes. Zusammen mit dem Wissenschaftler von Tschirnhaus führte er Experimente durch und fand im Osten des Landes bei Colditz schließlich einen Ton, der dem Kaolin in China höchst ähnlich ist. Von Tschirnhaus war darüber äußerst erregt und nannte das Porzellan, das sie in Meißen herstellten, die Blutschalen Sachsens.“
„Die Blutschalen Sachsens?“
„Ja. Nur unter dem Einsatz von Blut und Schweiß konnten sie chinesisches Porzellan herstellen.“ Ich fuhr fort, Tang Ying den Sachsen Ehrenfried Walther von Tschirnhaus, einen Mathematiker und Mediziner, vorzustellen. Er war ein Freund von Newton und stand auch mit Leibniz auf vertrautem Fuß, mit dem er zeit seines Lebens Briefe austauschte. Außerdem war er ein Mitglied der königlichen französischen Akademie der Wissenschaften. Als von Tschirnhaus im Jahr 1707 in Schneeberg Kaolinton und Alabaster gefunden hatte, überredete er den neunzehnjährigen Böttger zur Zusammenarbeit. Die beiden experimentierten Tag und Nacht mit unterschiedlichen Temperaturen. Als der Erfolg nahe schien, erbat von Tschirnhaus von August dem Starken 2.561 Thaler, aber der verkündete, er wolle erst bezahlen, wenn er das Porzellan gesehen habe. Noch bevor der König das Porzellan zu Gesicht bekam, starb von Tschirnhaus.
Drei Tage später wurde in das Tschirnhaus’sche Haus eingebrochen und Böttger erklärte, dass ein Stück Hartporzellan gestohlen worden sei. Einige meinen, Böttger habe damit zugegeben, dass Tschirnhaus der eigentliche Erfinder des Hartporzellans sei. Trotzdem erklärte sich Böttger in einem Memorandum an den Kurfürsten vom 28. März 1709 zum Erfinder des weißen Hartporzellans. „Mir ist, als ob schon vor sehr langer Zeit Fremde nach Jingdezhen kamen und mit Kaolin in ihre Länder zurückkehrten“, schien sich der alte Mann plötzlich zu erinnern. Er fragte einen neben ihm stehenden Diener: „Woher kamen doch diese Menschen, die damals mit Kaolin in ihre Heimat zurückkehrten?“
Der Diener konnte ihm dies nicht beantworten.
„Meines Wissens befand sich ganz Europa in einer rauschhaften Suche nach Porzellanerde“, zog ich einen teilweisen Schluss. „Wie haben sie die Erde gefunden?“ Tang Ying mag der größte Porzellanexperte seiner Zeit sein, aber er stellte Fragen wie ein unschuldiges Kind.
„Durch unermüdliches Experimentieren, wie Tschirnhaus und Böttger es damals taten. Der Prozess ist äußerst mühsam und beschwerlich, so dass viele lieber einen Handwerker suchten, der die Methode bereits beherrschte, anstatt diese ermüdenden Experimente weiter selbst durchzuführen. Auch von der Albrechtsburg flohen hin und wieder Handwerker und verkauften das Geheimnis der Porzellanherstellung an andere Länder.“
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