1 ...8 9 10 12 13 14 ...20 „Zeig mal dem Onkel die ausländischen Dinge, die du letztes Mal gemalt hast“, wies ihn sein Vater an.
Fügsam nickte der Sohn und stellte in einer sanften Bewegung seinen unfertig bemalten Rohling zur Seite. In dieser Familie zeigt sich beispielhaft das chinesische Sprichwort „Auch wenn der Spatz klein ist, hat er schon alle fünf Organe“. Aus einem Korb unter dem Tisch holte der Junge einen Stapel Teller hervor.
„Das hast alles du gemalt?“, fragte ich und konnte meinen Augen kaum trauen. Diese Teller waren von Europäern in Auftrag gegeben worden. Viele zeigten die Wappen großer Familien, andere Abbildungen von europäischen Landschaften und Gebäuden, wieder andere von europäischen Damen und Herren. Der Junge hatte auch Bilder von Johannes dem Täufer, von Maria, der Muttergottes, und sogar von Martin Luther gemalt. Er sagte, er wisse nicht, wer das jeweils sei, aber er male gern die Kreuzigung Christi. Das Ergebnis seiner äußerst feinen Pinselstriche wird in Frankreich „la ceramique d´encre de Chine“ genannt. Ich fragte ihn: „Dann kannst du alles malen, wenn du nur ein Bild davon hast?“ Der Knabe lächelte glücklich und nickte. Umgehend holte ich mein Skizzenbuch aus meinem Gepäck, zeigte auf eine Zeichnung und fragte ihn: „Kannst du auch das malen?“ Der Junge erschrak zuerst bei dieser Frage, aber dann nickte er grinsend. Es war Helenas Profil.
2. Anm. d. Ü.: Lokalbehörde im kaiserlichen China, der auch die Strafjustiz unterstellt war.
Jingdezhen, 1. November 1765
In meiner auf dem Boot gemieteten Koje steht ein hölzernes Bett mit einer Strohmatte und einem kleinen Tischchen am Kopfende. Außerdem ist sie mit einer Waschschüssel und einem Handtuch ausgestattet. Ich hatte gerade meinen Koffer abgestellt, meine Stiefel ausgezogen und wollte mich zur Ruhe legen, als von draußen der eigentümliche Gesang einer Frau hereindrang. Ich zog den Vorhang auf und schaute hinaus. Es war schon dunkel. Ich sah einige aufwändig bemalte Boote, die innen von bunten Lampions beleuchtet wurden. Eine reizend herausgeputzte Frau öffnete ebenfalls ihren Vorhang und sah mich an.
„Oh, ein ausländischer Herr! Möchten Sie nicht auf unser Boot kommen und sich ein bisschen amüsieren?“ Allmählich waren einige dieser Blumenboote bei meinem kleinen Schiff angekommen. Ich warf der Frau einen Blick zu. Ihre zwei raupendicken Augenbrauen wirkten auf den ersten Blick etwas sonderbar, aber ihre Augen strahlten außergewöhnlich und ihre Stimme war wunderschön. Sie trug ihre Fingernägel extrem lang. Kann es sein, dass sie die Quelle des wundersamen Gesangs war? Bevor ich mir darüber klar werden konnte, hatte das Boot neben meinem festgemacht und mehrere Frauenhände zogen an mir.
„Ah!“, rief ich auf Deutsch. „Helena, hilf mir!“
Kurz darauf fand ich mich inmitten einer Gruppe unverfroren lasziv gekleideter Frauen wieder. Eine fütterte mich mit gerösteten Erdnüssen, eine andere zupfte ein Instrument und sang, wieder eine andere prostete mir zu, hieß mich trinken und wieder trinken. Sie lehrten mich ein Trinkspiel, bei dem zwei Parteien gleichzeitig eine von drei Gesten machen. Diese Gesten standen zueinander in wechselseitigem Über- oder Unterordnungsverhältnis. Der Verlierer musste dann sein Glas leeren.
„Fremder Herr, wie Ihr wünscht. Ich trinke.“ Die Frauen tranken den Alkohol wie Wasser, ohne mit der Wimper zu zucken. Es wurde laut und jede von ihnen schien musizieren zu können. Die eine zupfte eine dreisaitige Laute, eine andere eine Pipa, noch eine andere sang Verse dazu. Ich verstand den lokalen Dialekt, den sie sprachen, kaum, aber unter dem Einfluss des Alkohols entspannte ich mich allmählich. In der Folge keimten ruchlosere Wünsche in mir. Auf der einen Seite streichelte ich die winzigen, in viele Tücher gewickelten Füße einer der Frauen, gleichzeitig entstand in mir das Begehren, die etwas reifere Frau auf meiner anderen Seite zu küssen. Seit ich auf das Boot gekommen war, fühlte ich mich zu ihr hingezogen. Sie war von einer Art wilder Schönheit, schien aber gleichzeitig von delikatem Wesen zu sein. Den ganzen Abend betrachtete sie mich still und sagte kein einziges Wort. Aber als ich sie zu küssen versuchte, erhob sie sich abrupt, verließ die Kajüte und verschwand Richtung Heck. Die Musik verstummte plötzlich und es wurde still. Mittlerweile herrschte stockfinstere Nacht.
Der Steuermann, der nicht am Gelärme teilgenommen, sondern den ganzen Abend in tiefes Schweigen gehüllt am Heck gesessen hatte, kam lautlos in die Kajüte und verlangte nachdrücklich eine Bezahlung.
„Wie viel?“
„Zwei Tael. 3“ Er klang so grimmig und wirkte so furchterregend, als wollte er mich in der Luft zerreißen.
„Oh. Ich habe nicht einmal einen bei mir.“ Noch war ich nicht vollständig betrunken und konnte wenigstens ein wenig feilschen. Nachdem wir eine Weile gestritten hatten, gab ich ihm sämtliches chinesisches Silber, das ich bei mir hatte. Trotzdem warf er mich ins Wasser. Steif vor Kälte trieb ich im Wasser, was mich jäh ernüchterte. Glücklicherweise bin ich früher oft in der Elbe geschwommen und kann als guter Schwimmer gelten. So kam ich letzten Endes zu meinem Boot zurück.
3. Anm. d. Ü.: Gewichts- und Währungseinheit für Silber, ca. 34 g.
Jingdezhen, 8. November 1765
Mein winterliches Bad hatte mir eine ernsthafte Verkühlung beschert. Glücklicherweise kümmerte sich die Familie Wang um mich und versorgte mich mit Medikamenten und heißer Suppe. Außerdem luden sie mich ein, bei ihnen zu wohnen, was ich höflich ablehnte. Ich stellte einen Diener an, der auf dem Boot für mich kochte.
Jingdezhen, 1. Dezember 1765
„In Jingdezhen gibt es keine Herbergen“, sagte Wang Yang. „Weil es in unserer Stadt zu viele Geheimnisse über Porzellan gibt und wir es Fremden nicht so leicht machen wollen, sie zu stehlen. Früher kamen viele Fremde mit betrügerischen Absichten in die Stadt, deren Schliche letztlich alle offenbar wurden. Aber du bist kein Kaufmann und sprichst fließend Chinesisch. Die chinesischen Handwerker werden sich gern mit dir austauschen und unterhalten“, tröstete mich Wang Yang.
Unter seiner Führung suchte ich viele bedeutende Handwerker in Jingdezhen auf und hatte die Gelegenheit, Porzellane aller Dynastien ebenso wie das berühmte Porzellan aus Jingdezhen zu sehen. In kurzer Zeit sog ich Wang Yangs reichhaltiges Wissen über Porzellan auf und hatte schon grundsätzliche Vorstellungen von Porzellan aus der Song-, Yuan-, Ming- und Qingzeit entwickelt. Fleißig machte ich mir Notizen und fertigte Skizzen an. Wang Yang erklärte alles mit großem Sachverstand und ich notierte mir jedes Detail so genau wie möglich.
Ich bewunderte das blauweiße Porzellan aus Jingdezhen. Es war von dem gleichen Blau wie die von mir so geschätzten Saphire. Allerdings strahlt das Blau aus der Zeit des Kaisers Yongzheng noch reiner als das aus der Ming-Dynastie, so dass es schier einen eigenen Stil verkörpert. Natürlich ist auch das Meißener Zwiebelmuster nicht zu verachten, doch im Vergleich schneiden die chinesischen Fertigkeiten nach wie vor besser ab.
Ich hatte das Glück, einen „Sich-ergänzende-Farben-Becher“ aus der Mingzeit zu sehen. Dieser Weinbecher war so dünn und durchscheinend wie ein Zikadenflügel und es gaukelten Schmetterlinge in prächtigen und leuchtenden Farben wie lebendig darauf auf und ab. Außerdem war es mir vergönnt, ein seltenes Seladon-Räuchergefäß aus einem Ofen der südlichen Song zu bewundern. Das grünliche Blau war so frisch wie der klare Himmel nach einem Regen, und das Muster schimmerte wie Fischschuppen.
Ich schmeichelte mich bei dem Besitzer des Bechers ein, einem Herrn Chang, der aus einer alten Gelehrtenfamilie in Jingdezhen stammt, um meinen Augen öfter diesen labenden Anblick zu ermöglichen. Sein Großvater hatte seinerzeit den dritten Platz in der großen kaiserlichen Palastprüfung erlangt, und er selbst hatte immerhin bereits das Bezirksexamen bestanden.
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