Charles M. Shawin
Die Tränen der
Rocky Mountain Eiche
Ein glänzender Stein am Wegrand. So klein – und doch so schön.
Ich hob ihn auf. Er war so schön!
Ich legte ihn wieder zurück und ging weiter.
Calvin O. John
Gewidmet dem großen Volk der Neme
Die Tränen der
Rocky Mountain Eiche
Historischer Roman
von
Charles M. Shawin
Impressum
Die Tränen der Rocky Mountain Eiche, Charles M. Shawin
TraumFänger Verlag Hohenthann, 2019
eBook ISBN: 978-3-941485-94-5
Datenkonvertierung: digitalreprint gmbh
Lektorat: Michael Krämer
Satz und Layout: Janis Sonnberger, merkMal Verlag
Titelbild: Alfredo Rodriguez
1. Auflage Mai 2021
Copyright by TraumFänger Verlag GmbH & Co. Buchhandels KG, Hohenthann
Printed in Germany
Inhaltsverzeichnis
Das Schiff
Dave
Cuthbert
Der Anlegesteg
Clarissa
Mr Blackmore
Orlando Bell
Die Mandanen
Yellowstone
Blackfeet
Boston
Geschäfte
Wölfe
Waicoh
Ein Geschenk
Massachusetts
Kaleb
Weihnachten
Das Blackfoot-Mädchen
Die Shoshonen
Wettspiele
Four Ravens
Das Ballrennenspiel
Cheyenne
Familie Borden
Büffel
Raub
Die Rocky Mountain Eiche
Trapper
Skohkooni
Flucht
Humphrey
Daisy
Bennry
Siedler
Christuskreuz
Die Siedlung
Der Reverend
Die Tränen der Eiche
Sioux
Mrs Hayden
Blackmore
Ein neues Haus
Tanz
Versuchung
Die Kuh
Samariter
Baxter
Notwehr
Der Prozess
Der Angriff
Freiheit
Das Schiff
Stöhnend und fauchend quälte sich das Dampfschiff den Mississippi hinauf. Die gewaltigen Schaufelräder schlugen klatschend ins Wasser und trieben den hölzernen Kiel wie ein Ungeheuer gegen die braun-gelbe Flut. Aus dem Schornstein quollen dichte Wolken; schrill und ohrenbetäubend rief das Typhon: „St. Louis, ich komme!”
Schon seit Wochen stand es in der Frontier News: St. Louis wird an die restliche Welt angeschlossen – zum ersten Mal wird es ein dampfbetriebenes Schiff ansteuern.
Ein Korbflechter, der weiter südlich am Fluss gewesen war, um Weiden zu schneiden, kam an jenem Tag aufgeregt in die Stadt zurück gerannt und rief voller Freude: „Das Dampfschiff! Es ist da!” Die, die ihn hörten, folgten seinem Ruf und rannten zum Fluss, und als dann in der St. Michaels Kirche die Glocken läuteten, wussten es alle und rannten hinaus aus der Stadt. Der Schmied verließ seine Esse, der Schneider warf das Nähzeug weg, Frauen ließen das Mittagessen anbrennen und die Kinder vergaßen ihr Spiel. Aufgeregt standen sie unten am Fluss in der Sommerhitze des Jahres 1817 und warteten auf das große Ereignis. Die Stadt hinter ihnen war wie leergefegt. Noch immer läutete die Glocke der St. Michaels Kirche die Zukunft ein. Ihr Klang verfing sich hohl in den einsamen Gassen.
Der fünfjährige David Heinrich Hofer war einer der Letzten, der unten am Pier ankamen. Sein schmächtiger Körper war den Leibern der Erwachsenen gegenüber nicht gewappnet; immer wieder wurde er beiseite gedrängt oder geschubst. Verzweifelt versuchte er,
einen Blick auf den Mississippi zu erhaschen, aber vergeblich. Endlich erblickte ihn Hastings Blackmore. Die riesigen Hände des Zimmermanns packten den Knaben und hoben ihn auf die breiten Schultern. „Sollst es nicht verpassen, mein Junge, wenn der Fortschritt in St. Louis Einzug hält!”, rief er vergnügt, und seine Augen funkelten erwartungsvoll.
David lächelte zufrieden. Seine kleinen Hände pressten sich an Mr Blackmores Stirn, auf der dicke Schweißperlen standen. Der riesenhafte, korpulente Mann schwitzte ohnehin leicht, doch heute trieb ihm die fiebrige Erwartung den Schweiß in Bächen aus den Poren.„Wie geht es deiner Mum?”, fragte Mr Blackmore, ohne den Blick vom Fluss zu wenden.
„Ich glaube, gut”, antwortete der Junge artig.
Noch war das Schiff nicht zu sehen. Nur die Rauchfontäne war zu erkennen, die hinter der letzten Flussbiegung senkrecht in den Himmel stieg. Und die Sirene war zu hören, deren Tuten den Wartenden begeisterte Jubelrufe entlockte.
Abseits der weiß getünchten Häuser von St. Louis standen einige, die von Schmutz strotzten und die teils zerschlissen und mit schäbigen Bretterabfällen notdürftig geflickt waren. Die Besitzer dieser armseligen Behausungen – man nahm an, es handle sich um Caddo-Indianer – Genaues wusste niemand zu sagen und wollte auch niemand wissen – lagerten wie Bettler vor der Stadt und lebten von dem, was ihnen die Eroberer ihres Landes in Anflügen von Barmherzigkeit zukommen ließen.
Die Neugier trieb auch sie aus ihren Zelten. In schmutzigen Kleidern, mit verlausten Haaren, viele angetrunken, kamen sie zum Fluss. Mit stoischem Gesichtsausdruck, in verfilzte Decken gehüllt, ließen sie sich abseits der Weißen nieder und warteten.
„Wie Tiere”, knurrte Hastings Blackmore. Er zupfte David am
Hemdsärmel. „Schau sie dir an, Dave! Arme Wichte sind das. Kommen hierher und glotzen den Fluss hinab. Und haben dabei keinen Schimmer, was dort gleich kommen wird.”
„Vielleicht wissen sie es doch, Mr Blackmore”, widersprach Dave
leise.
Hastings Blackmore drehte schmunzelnd den Kopf und sah ihn über die Schulter hinweg mitleidig an.
„Ich sagte dir doch, sie sind wie Tiere. Wie dumme, störrische Tiere. Und sie sind Diebe und Gotteslästerer. Allesamt. Aber sie sind auch arme Wichte.”
Cuthbert kam angerannt und forderte Dave auf, mit ihm und den anderen Kindern dem Schiff entgegenzulaufen. Er war Mr Blackmores Sohn. Er war neun, also vier Jahre älter als Dave, aber sein Körper zeigte schon gute Ansätze von Muskeln. Dave beneidete ihn deswegen, aber auch wegen der Art, wie Cuthbert sich selbst gegenüber älteren Kindern durchsetzte. Außerdem hatte Cuthbert schon Whiskey getrunken. Dave hatte ihn hinter Mr Blackmores Haus erwischt, aber er hatte es niemandem verraten.
Nachdem ihn Mr Blackmore auf dem Boden gesetzt hatte, folgte Dave dem älteren Jungen ohne ein Wort des Widerspruchs. Viel
lieber wäre er auf Mr Blackmores breiten Schultern sitzengeblieben, weil er sich dort oben geborgener fühlte.
Endlich tauchte das Schiff auf. Der breite Rumpf lag flach in den Fluten; wie eine riesige rote Zigarre steckte der Schornstein in der Mitte und spie Feuerfunken und Rauch aus; an beiden Seiten lagen die Räder – sie waren fast so groß wie das ganze Schiff. Enorme Kräfte mussten sie antreiben, denn tosend gruben sie sich in das schlammige Wasser und wühlten es auf. Nichts schien die Gewalt dieses Monsters aufhalten zu können. Und dabei fuhr es ohne ein einziges Segel, wie einer der St. Louiser erstaunt bemerkte.
Jetzt konnten sich selbst die Erwachsenen nicht mehr halten. Jubelnd rannten sie dem Ungeheuer entgegen. Die, die ihre Pferde dabei-
hatten, ritten am Ufer entlang, schwangen ihre Hüte und waren schneller bei dem Schiff als die Kinder, die vorausgeeilt waren.
Die Indianer liefen in die entgegengesetzte Richtung. Die imposante Erscheinung dieses Zauberkanus und der Lärm der Sirene versetzte sie dermaßen in Angst und Schrecken, dass sie in ihre Zelte rannten und sich dort versteckten.
Am Bug des Schiffes stand der Kapitän. Nicht ohne Stolz nahm er die triumphale Begrüßung entgegen. Als er in Louisville aufgebrochen war, wusste er, dass das Schiff in St. Louis Aufsehen erregen würde, denn die meisten dort hatten noch nie ein Dampfschiff gesehen. Was ihm aber jetzt geboten wurde, übertraf seine Erwartungen.
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