Die Ochsen und Mulis legten sich mit aller Kraft ins Geschirr, und doch drehten sich die großen Räder der Planwagen nur langsam. Zu steil war der Weg, zu glatt der felsige Untergrund, auf dem weder die Hufe der Tiere noch die Wagenräder richtigen Halt fanden. Nur die Fahrer saßen auf den Wagen. Alle anderen Auswanderer, auch Kranke und kleine Kinder, waren abgestiegen, um den Zugtieren ihre schwere Last ein wenig zu erleichtern. Die auf den Böcken sitzenden oder neben den Gespannen hergehenden Männer und Frauen trieben die Tiere mit heiseren Rufen und Peitschengeknall an.
Der erste Wagen, der schwere Conestoga des Treck-Captains, hatte das Ende der Steigung fast erreicht. Nur noch etwa zwanzig Yards trennten das vorderste Maultierpaar von der hohen spitzen Felsnadel, die den Gipfel der Anhöhe markierte. Da geschah die Katastrophe...
Abner Zacharys erstes Mulipaar fand plötzlich keinen Halt mehr unter den Hufen. Geröll und Erdreich lockerten sich immer mehr unter den verzweifelten Versuchen der Tiere, wieder festen Tritt zu bekommen. In Panik wieherten die Mulis auf. Ihre Angst kam nicht von ungefähr. Zur Rechten war der steile Pfad von wildgezackten Felsen und riesigen Bäumen begrenzt. Links aber gähnte ein gefährlicher Abgrund, eine mehr als fünfhundert Yards tiefe Felsschlucht.
»Kommt weiter!« schrie Andrew Zachary, der jüngste Sohn des Treck-Captains, der links neben den Zugtieren ging, die Mulis an. Er griff ins Geschirr, um die Tiere voranzuziehen. Doch da spürte auch der Sechzehnjährige den lockeren Boden unter seinen Füßen, rutschte aus und schlug hart auf den steinigen Grund.
Über sich sah er das graubraune Fell der Mulis, ihre in wilder Panik auf das Felsgestein schlagenden Hufe. Er rollte sich zur Seite, um den Tritten zu entgehen, aber einer traf ihn doch in die Nierengegend. Ein heißer Schmerz durchfuhr seinen Körper.
Andrew Zachary vergaß den Schmerz, als unter ihm plötzlich der Boden nachgab. Nein, er gab nicht nach - er war verschwunden. Der junge Auswanderer hatte sich zu weit abgerollt, über den Rand der Schlucht hinaus.
Um ihn herum drehten sich die schroffen Felsen, als er in die Tiefe stürzte. Etwas Grünes ragte aus dem grauen Gestein hervor. Instinktiv griff der Junge danach und hielt sich mit aller Kraft daran fest, auch als ein mächtiger, schmerzhafter Ruck durch seine Arme ging.
Er wußte, daß er nicht loslassen durfte. Das würde unweigerlich seinen Tod bedeuten.
So hing Andrew Zachary mit ausgestreckten Armen an einem fast waagrecht aus der Wand wachsenden Strauch und blickte besorgt nach oben. Fast fünfzig Yards war er gefallen.
Er rief um Hilfe, erhielt aber keine Antwort. Niemand kam an den Rand der Schlucht, um nach ihm zu sehen. Nicht sein Vater, nicht sein Bruder Aaron und auch nicht seine drei Schwestern.
Aber er hörte oben das Wiehern der Tiere, das Geschrei der Menschen und lautes Krachen wie von zersplitterndem Holz. Da wußte er, daß seine Familie und deren Gefährten mit anderen Problemen zu kämpfen hatten.
Andrew hielt sich weiter fest und schrie immer wieder um Hilfe. Er hatte nicht viel Zeit.
Seine Arme schmerzten bereits stark.
Und er hatte das Gefühl, daß die Wurzeln des Strauches unter seinem Gewicht nachgaben. Zoll um Zoll bog sich das seltsame Gewächs nach unten.
*
Jacob Adler ritt auf seinem Grauschimmel neben seinem leichten Planwagen her, als sich die Treckspitze anschickte, den Hügel zu erklimmen.
Sein Wagen? Eigentlich war es der Wagen von Alan Clayton und Urilla Anderson gewesen. Aber der Spieler Clayton, der die Asquith Trading Bank um 80.000 Dollar erleichtert hatte, wartete jetzt in Kansas City vermutlich auf sein Gerichtsverfahren oder war bereits verurteilt. Urilla Anderson war beim Treck geblieben. Jacob und seine Freunde, Martin Bauer und Irene Sommer mit ihrem kleinen Sohn Jamie, hatten den Wagen übernommen, als ihr eigenes Gefährt in den Hoch was serfluten des Big Blue River in Stücke gebrochen war.
Claytons Zugpferde hatten sie durch ihre eigenen Ochsen ersetzt. In diesem schwierigen Gelände waren Pferde gut zum Reiten, aber nicht zum Ziehen eines Wagens.
Irene und Urilla gingen neben dem Wagen her. Irene hielt ihren kleinen, dick eingemummelten Sohn in den Armen. Martin saß auf dem Bock und hatte noch keine Mühe, die Ochsen voranzutreiben. Das würde sicher noch kommen, sobald der Wagen das letzte - und steilste - Stück der Steigung erreichte.
Jetzt mühte sich Abner Zachary ab, seinen großen Conestoga auf die Hügelkuppe zu bringen. Nur langsam kamen die acht Maultiere voran. Immer wieder rutschten ihre Hufe auf glattem Felsen oder lockerem Geröll ab. Rechts und links des Gespanns gingen Abners Söhne und trieben die Tiere an.
Als das Unglück geschah, zügelte Jacob sein Pferd und saß ein paar Sekunden starr im Sattel. Er konnte - wie die meisten Auswanderer, die Zeugen des Geschehens waren - kaum glauben, was sich ein paar Wagen vor ihm abspielte.
Er sah, wie der junge Andrew Zachary erst unter die Hufe der Mulis geriet und dann in den Abgrund stürzte. Mit Entsetzen registrierte der junge Deutsche, daß Andrew tot war. Das stand für ihn fest. Die Felswand war steil und glatt.
Welch ein Schlag für den alten Abner Zachary: nach der Ermordung seines ältesten Sohnes Adam in Kansas City jetzt noch ein Kind zu verlieren!
Nur kurz konnte Jacob an das schwere Schicksal des Treck-Captains denken. Was dann geschah, nahm ihn voll gefangen: Abner Zachary selbst befand sich in größter Gefahr.
Der Sturz des Jungen in den Abgrund schien die Maultiere noch mehr mit Panik erfüllt zu haben. Sie verloren vollends den Halt, und der Conestoga begann nach hinten zu rollen, auf den nachfolgenden Wagen von Noah Koontz zu.
Der graubärtige Prediger zog die Wagenbremse an und schrie verzweifelt auf seine Mulis ein, aber es nutzte alles nichts. Zu steil und glatt war der Weg, zu erschrocken die Tiere.
Koontz hatte seinen Wagen angehalten und ebenfalls die Bremse angezogen. Die Fahrer der nachfolgenden Wagen taten es ihm nach.
Erschrocken sprangen die Auswanderer beiseite, als sich die Katastrophe abzeichnete. Immer schneller rollte Zacharys Conestoga auf Koontz' Wagen zu.
Noah Koontz selbst starrte dem anderen Gefährt mit schreckgeweiteten Augen entgegen. In letzter Sekunde sprang der dunkelhäutige Farmer vom Bock und brachte sich hinter einem großen Felsen auf der Anhöhe zur Rechten in Sicherheit.
Aber Abner Zachary saß noch auf dem Bock, als sein Conestoga mitten zwischen Koontz' Ochsen fuhr, die Tiere einfach beiseite schob oder unter sich zermalmte.
Dann krachte der Conestoga in den anderen Prärieschoner. Laut splitterte und brach das Holz der beiden Wagen. Splitter und größere Holzstücke flogen durch die Luft. Ochsen und Mulis brüllten unablässig vor Schmerz und Panik. Ineinander verkeilt bäumten sich das Hinterteil des Conestogas und das Vorderteil von Koontz' Wagen auf.
Der Prärieschoner des dunkelhäutigen Farmers drehte sich langsam. Es sah aus wie der seltsame Tanz eines urzeitlichen Ungetüms. Der Wagen stürzte auf die Seite und ging vollends zu Bruch. Farmgeräte, Saatgut, Verpflegung, Hausrat und Kleidung wurden weithin verstreut; ein guter Teil landete in der Schlucht. Der Eimer mit Wagenschmiere, der unter dem Gefährt an der Hinterachse gehangen hatte, kollerte laut den steilen Pfad herunter und machte die Zugtiere der nachfolgenden Wagen scheu.
Jacob mußte seinen Grauen zügeln und ihm beruhigende Worte zusprechen, als der Schmiereimer direkt vor dem Pferd liegenblieb. Sonst wäre das durch den Unfall verängstigte Tier mit den Vorderhufen in die Luft gestiegen und hätte seinen Reiter abgeworfen.
Das riß den jungen Deutschen aus der Starre, die ihn beim Zurückrollen von Zacharys Conestoga befallen hatte. Er stieg aus dem Sattel, reichte der erblaßten Urilla die Zügel und rannte nach vorn, an Planwagen und Auswanderern vorbei, die Steigung hinauf zur Unglücksstelle. Andere Männer folgten seinem Beispiel.
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