Gierig verschlinge ich den Becher mit den Augen, um seine Schönheit meiner Erinnerung einzubrennen. Es handelt sich um dünnwandiges Eierschalenporzellan, von dem es in einem Vers heißt:
„Ich fürchte, der Wind bläst es fort,
mich sorgt, die Sonne könnt’ es zerschmelzen.“
Ich kann all diese Porzellane betrachten und vergleichen, weil Wang Yang es versteht, in dieser Stadt unfehlbar seine Besitzer ausfindig zu machen. Besonderes Augenmerk richte ich auf einige Stücke, deren herrliche Muster auf der Glasur durch eine wundersame Transformation im Ofen entstehen, und auf einige mehrfarbig glasierte Stücke. Jingdezhen hat mir wirklich die Augen geöffnet!
Ich erzählte Wang Yang, dass ich eine Vorliebe für das sahnig-weiße Porzellan aus der Ära des Kaisers Yongle und für das gelb glasierte Porzellan aus der Zeit des Kaisers Hongzhi hätte. „Das einzige Porzellan, dem ich nicht so viel abgewinnen kann, ist die songzeitliche Ge-Ware mit ihren Glasurrissen.“ Dieses cremeweiße Porzellan aus dem Ge-Brennofen weist ein Linienmuster aus Rissen auf, die durch eine bestimmte Art von Brand erzeugt werden. Das Porzellan selbst wirkt so, als sei es gesprungen, aber tatsächlich ist es völlig unversehrt. Viele Chinesen lieben diese Art Porzellan.
Jingdezhen, 2. Dezember 1765
Ich kann mittlerweile das Porzellan aus der Song-Dynastie erkennen und verstehe mich allmählich auch auf die fünf großen Brennöfen dieser Zeit. Auch habe ich das von August dem Starken so begehrte Ru-Porzellan mit eigenen Augen gesehen. Es heißt, dass heutzutage niemand mehr in der Lage sei, Ru-Porzellan herzustellen, obwohl unzählige Chinesen überall nach dem geheimen Rezept gesucht haben. Nachgemachte Ru-Ware gibt es allerdings überall. Diese verlangt keine geheimen Fähigkeiten.
Ich verfalle zusehends der schlichten Schönheit songzeitlichen Porzellans und verstehe langsam, weshalb Porzellansammler wie August der Starke Ru-Porzellan für einzigartig hielten. Wie könnten Europäer, die noch nie Song-Porzellan gesehen haben, das verstehen? Gleichzeitig bin ich mir nicht sicher, ob sie es lieben würden, wenn sie es tatsächlich zu Gesicht bekämen. Gefallen ihnen denn nicht nur die Dekore, die sie für chinesisch halten? Wer von ihnen weiß schon, dass die Chinesen sie extra für sie so malen, in der Annahme, dass es dem Geschmack der Europäer entspricht?
Jeden Abend, wenn ich zu meinem Boot zurückgekehrt bin, mache ich mir im schwachen Licht der Kerze Notizen und zeichne das gekaufte oder geliehene Porzellan ab. Wenn von draußen gelegentlich Geräusche von Lustbarkeiten auf den Blumenbooten hereindringen, steckt mein Diener sofort seinen Kopf heraus, um sie anzusehen, aber ich lüfte den Vorhang nicht mehr.
Im Gegenzug dafür, dass mich Wang Yang überall herumgeführt und mir Porzellan gezeigt hatte, helfe ich ihm bei der Reparatur seines Hauses und beim Porzellanverkauf auf dem Markt. Ich bin begierig darauf, einen offiziellen Brennofen zu besichtigen, egal was für einen. Aber so zermürbend das Warten auch sein mag, es ergab sich dazu noch keine Gelegenheit.
Als ich klein war, spielte ich in der Nähe meines Elternhauses bei Dresden. Eine geheimnisvolle Höhle erweckte meine ganze Neugier, doch die Bewohner des Ortes sagten, dass etwas Böses darin wohne, und auch meine Eltern erlaubten mir nicht, dort hinzugehen, egal wie lange und wie inständig ich sie darum bat. Aber eines Tages erzählte mein Vater, dass ein Geologe die Gegend erkunden wolle. Zu gegebener Zeit würde er ihn fragen, ob ich ihn begleiten dürfe. Ich wartete eifrig den ganzen Tag. Ich wartete mehrere Monate. Als der Geologe endlich kam, brachte er allerlei Apparate und Instrumente mit, um Messungen vorzunehmen, wobei ich ihm helfen durfte. Wenn ich heute darüber nachdenke, war es diese Begebenheit, die mich zu dem Entschluss veranlasste, Mineraloge zu werden. Als ich dann endlich Mineraloge geworden war, hatte ich das Interesse an der Mineralogie schon wieder verloren. Meine Interessen hatten sich vielmehr derart erweitert, dass mich die Steine nicht mehr auszufüllen vermochten. Auch das wurde mir erst allmählich klar, nachdem ich Dresden verlassen hatte. Lieber würde ich malen.
Jingdezhen, 20. Dezember 1765
Früher war Jingdezhen eine Legende für mich, und nun bin ich zu einer Legende in Jingdezhen geworden.
In Jingdezhen gibt es mehr als dreißig offizielle und über dreitausend private Brennöfen. Unter den Handwerkern verbreiten sich Gerüchte in Windeseile. Sie waren neugierig auf den ausländischen Teufel, der sich mit Porzellan auskennen soll. Einige interessierte besonders, ob ich antikes Porzellan von nachgemachtem unterscheiden kann. Es werden sogar Wetten darüber abgeschlossen, ob es mir tatsächlich gelingt, echt und falsch auseinanderzuhalten. Eines dieser Wettspiele wurde in einem großen Haus in der Nähe des Marktes abgehalten. Der Einsatz erreichte schon bald einige Goldunzen. Die Frage war, welche der beiden grün glasierten Porzellanflaschen mit einem eingeschnittenen Päonienmuster aus der Zeit der nördlichen Song stammt.
Die Flaschen sehen aus wie Blumenvasen, werden aber tatsächlich für Schnaps benutzt. Ich war in dieses Haus eingeladen worden, ohne dass mir jemand das Geringste über diese Wette erzählt hatte. Viele Männer warteten bereits auf mich, andere waren nur gekommen, um dem Spektakel beizuwohnen. Mit ernsthafter Miene beklopfte ich die Flaschen. Eine klang viel klarer und melodiöser. Ich bespritzte die Unterseite der Flaschen mit Wasser. Bei einer verteilte sich das Wasser sehr schnell. „Das spricht für eine höhere Absorption“, dachte ich laut. Sorgfältig strich ich über die Oberflächen der Flaschen, um deren Qualität zu untersuchen, und mit dem Einverständnis des Besitzers kratzte ich leicht mit einem harten Gegenstand unten über die Glasur. „Die Schrammen zeigen die Qualität.“ Ich betrachtete die Farben, untersuchte sie nach Rissen und dem Grad der Glätte. Beide Flaschen waren von verblüffend ähnlicher Qualität, aber die eine hatte einen klareren Klang. Nachdem ich alle Ergebnisse ausgewertet hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als mich auf die Intuition eines Mineralogen zu verlassen. „Diese hier ist aus der Zeit der nördlichen Song.“ Auf einmal wurde es still. Kurz darauf brachen die Gewinner in Gelächter aus, während mich die Verlierer fassungslos ansahen und sich fragten, wie das hatte passieren können. Was für eine Art Gott war ich? Oder ein Dämon? Wie hatte ich das gemacht? Mein Ruhm verbreitete sich in Windeseile.
Die nächste Wette bekam noch mehr Zulauf. Mir wurde bewusst, dass dies Ärger bedeuten könnte, und ich wollte eigentlich nicht mehr mitmachen. Aber die Buchmacher lockten mich mit Geld, und in den Tiefen meines Herzens wollte auch ich zu gern wissen, ob ich wirklich ein Experte war oder ob ich das eine Mal bloß Glück gehabt hatte. Gleicht mein ganzes Leben doch einer Wette. Bin ich nicht ein unverbesserlicher Spieler? Der Einsatz war mein Leben.
Einige Runden lang lag ich immer richtig, was den Einsatz laufend erhöhte. Jedoch beim letzten Mal, als ich eine rot glasierte Kanne in Form einer Mönchskappe aus der Ming-Dynastie beurteilen sollte, ließen mich meine Fähigkeiten im Stich. Einer, der dabei sehr viel Geld verlor, argwöhnte, dass ich absichtlich falsch geantwortet hätte, und erhob im Yamen Klage gegen mich. Der stellvertretende Bezirksmagistrat war ein wohlmeinender Gelehrter, der mich ausgesucht höflich behandelte. Er ließ mich nicht festnehmen, sondern lud mich nur zu einem Gespräch. Meine Sorge stand mir ins Gesicht geschrieben, als ich ihm auseinandersetzte, dass ich unabsichtlich falsch geantwortet hatte und mich einfach nur für Porzellan interessiere. „Das macht nichts. Ich werde dir helfen, es dem kaiserlichen Manufakturaufseher zu erklären.“ Das war die abschließende Entscheidung des freundlichen, rundgesichtigen Beamten.
Читать дальше