Ein flüchtiger Blick rundum überzeugte ihn, dass die Aussicht sich nicht lohnte. Sein winziger Turm stand in einem Talkessel zwischen drei mächtigen Türmen, deren Wucht ihn fast erdrückte. Von der Stadt konnte er nichts sehen. Bei so einer Aussicht würde er trübsinnig. Jo befahl der Wand, wieder undurchsichtig zu werden.
***
Dacas wischte verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Es war lächerlich. Ein König sollte nicht weinen, wenn seine Tochter den Thronerben des Nachbarlandes heiratete. Auch nicht, wenn es seine Lieblingstochter war. Selbst dann nicht, wenn diese Tochter das Ebenbild ihrer innig geliebten Mutter war.
Wenn er wenigstens sicher sein könnte, dass Sirit glücklich würde. Aber der karapakische Erbe hatte etwas an sich, was ihn unheimlich erscheinen ließ. Und Dacas Menschenkenntnis hatte ihn selten getäuscht. Ein schöner junger Mann, intelligent und gesund, daran bestand kein Zweifel. Ein wenig eitel und sehr von sich eingenommen, aber welcher junge Mann würde sich anders verhalten, schon gar, wenn er ein Prinz war? Und trotzdem, so, wie er sich bei seinem Besuch den Dienern gegenüber benommen hatte, insbesondere den Dienerinnen … Dacas konnte den Finger nicht genau auf das legen, was ihn warnte, aber es war da. Ein kleines, nagendes Gefühl.
Sirit schien dieses Gefühl zu teilen. Die junge Braut sah aus, als ob sie zu einer Totenfeier musste, statt zu ihrer Hochzeit. Außer, dass sie keine Träne vergoss. Steif stand sie da in der üppigen blauroten Pracht ihrer Brautgewänder und starrte dem karapakischen Brautzug entgegen, der sich gerade mit zweihundert Berittenen, fünfhundert Fußsoldaten, einem Dutzend Gauklern und Musikanten, mehreren Ochsenkarren und etlichen Sänften durch die Straßen Tolors auf den Palast zu bewegte. An der Spitze ritt der älteste Sohn des karapakischen Königs, in exzellenter Haltung, einen Königsfalken auf der Schulter. Ja, wenn er der Brautgemahl seiner Tochter gewesen wäre, dann hätte er nicht um Sirit gefürchtet. Aber Ioro war nur der Feldherr. Seine Aufgabe war einzig, die Braut seines Bruders sicher nach Sawateenatari zu geleiten.
Dacas wischte eine zweite Träne aus seinem unbotmäßigen Auge.
*
Ioros Hengst tänzelte auf der Stelle. Er fasste den Zügel stärker. Die tolorische Bevölkerung hatte zwar den Brautzug pflichtschuldigst begrüßt, aber von Jubel war die Stimmung weit entfernt. Mehr als jede offizielle Äußerung ließ ihn die Zurückhaltung der Menge spüren, wie wenig dem Volk gefiel, dass ihre Prinzessin ausgerechnet den Sohn ihres Erbfeindes heiratete.
Sie waren Narren. Jede noch so schlechte Heirat einer Prinzessin war besser als Krieg zwischen den benachbarten Königreichen. Die Tolorier hatten Glück, das ihr König Dacas vernünftig genug war, um das einzusehen, zumal die Einfälle der Nomadenstämme in beiden Königreichen von Jahr zu Jahr zunahmen und es höchste Zeit wurde, beider Kräfte militärisch zu vereinen. Wenigstens die Adeligen besaßen Verstand genug, das zu begreifen.
Er lenkte den Hengst weiter. An den Eingangsstufen zum Hauptflügel des Schlosses wartete ein Page. Ioro sprang ab und warf ihm die Zügel zu. Der Hengst rollte mit den Augen, ließ sich dann aber von dem Kind zur Seite führen. Ioro schritt die Stufen hinauf und verbeugte sich vor Dacas. Der Falke flatterte, um sein Gleichgewicht zu halten.
Dacas zog die Augenbrauen überrascht zusammen. „Ihr reist mit einem verkrüppelten Falken?“
„Er ist nicht verkrüppelt!“ Schnell rief Ioro sich zur Raison. Er durfte nicht so emotional reagieren. „Seine Federn verbrannten, als er mir das Leben rettete. Sie werden nachwachsen. Er wird schon bald wieder fliegen können. Bis dahin aber ist es nur gerecht, das ich ihn trage, schließlich verdankt er mir seine vorübergehende Einschränkung.“
Dacas nickte, als ob ihm gerade etwas bestätigt wurde. Kunststück. Ioro wäre jede, absolut jede Wette eingegangen, dass Dacas genau über die vergangenen Geschehnisse in Sawateenatari informiert war. Aber der alte Fuchs war schlau genug, so zu tun, als wüsste er von nichts. Die zukünftige Familie seiner Tochter sollte ihr Gesicht wahren dürfen vor dem tolorischen Volk.
Jetzt regte auch Sirit sich, die bislang starr wie eine Marmorstatue zwischen ihrem Vater auf der einen und ihrem Bruder und ihrer Mutter auf der anderen Seite gestanden hatte. Es war nur ein winziges Kräuseln ihrer Mundwinkel, eine kaum merkbare Bewegung ihres Kopfes, aber Ioro hatte den Eindruck, dass Sirit sich über seine Verteidigung des Falken freute. Tolioro hatte mehr Glück als Verstand, dass er diese Frau heiraten durfte. Sie war zwar hässlich, aber ganz offensichtlich nicht nur intelligent, sondern auch mitfühlend. Obwohl Ioro bezweifelte, das ausgerechnet diese Eigenschaft bei seinem Bruder auf Gegenliebe stoßen würde.
Er stieg die Stufen empor, kniete vor Sirit nieder und präsentierte ihr Tolioros Brautgabe. Funkelnd brach sich die Sonne in dem blutroten Stein.
Ein kollektives Stöhnen lief durch die Menge.
Der heilige Stein der Brennenden Göttin, der Göttin Tolors! Der Stein, den Karapak vor mehr als fünf Generationen bei einem Vorstoß auf die Ebenen der Steinsäulen aus dem Roten Tempel entführt hatte! Der heilige Stein kehrte zurück nach Hause!
Sirit streckte zwei zitternde Hände aus. Behutsam nahm sie den Stein vom Kissen, führte ihn an ihre Lippen. Dann hob sie ihn über ihren Kopf, reckte ihn, so hoch sie konnte, und präsentierte ihn der Menge.
Tolor erzitterte unter einem frenetischen Freudenschrei. Der Bann war gebrochen. Jubelnde Menschen durchbrachen die Absperrungen und strömten zu den überraschten karapakischen Reitern und Fußsoldaten. Sie umarmten die völlig verblüfften Männer, steckten ihnen Blumen zu und küssten sie. Es dauerte nur wenige Momente und aus der geordneten Hochzeitskarawane war ein riesiges, feierndes, tanzendes, jubelndes Menschenknäuel geworden.
Ioro lächelte. Er hatte recht gehabt. Diese Hochzeitsgabe war die einzig richtige, die einzig mögliche, wenn Kanatas Friedensangebot überzeugend wirken sollte.
*
Sirit schob den Vorhang ihrer Sänfte ein wenig zur Seite. Das Panorama der Berge war atemberaubend schön. Es schnürte ihr die Kehle zusammen. Das letzte Mal, das allerletzte Mal in ihrem Leben, dass sie ihre heimatlichen Berge sehen konnte. Schon morgen würden sie das karapakische Flachland erreichen, das sie nie in ihrem Leben wieder verlassen sollte. Am liebsten hätte sie so laut losgeheult wie ihre Dienerinnen, die in den anderen Sänften saßen. Wenn man ihr wenigstens erlauben würde, zu reiten, dann hätte sie die Berge noch ein letztes Mal in all ihrer Schönheit genießen können, statt in diesem düsteren, stickigen Kasten zu sitzen. Aber nein, Karapakier hielten es für würdelos, wenn Frauen auf Pferden saßen. So war es ihr nicht einmal vergönnt, richtig Abschied zu nehmen von ihrer Heimat. Sirit schluckte ihre ungeweinten Tränen.
Von vorne erklangen Rufe. Die Karawane wurde langsamer. Sirit war irritiert. War schon wieder einem der Ochsenkarren ein Rad gebrochen? Die Karapaki waren verrückt, in den Bergen mit Ochsenkarren zu fahren. Kein tolorischer Händler hätte sich auf derartigen Unsinn eingelassen. Maultiere und Tragochsen, damit schafften intelligente Leute ihr Hab und Gut durch die Berge. Aber wenn sie so an Tolioro dachte, dann war es mit der Intelligenz der Karapakier wohl nicht so weit her, wie die selbst dachten. Nur von dessen älterem Bruder hielt sie ein wenig mehr. Dieser Ioro schien nachzudenken, bevor er handelte. Und er war fähig, ihr beim Spiel Paroli zu bieten.
Da kam er auch schon. Diesen speziellen Hufschlag kannte sie mittlerweile fast im Schlaf.
Sie schob den Vorhang noch ein wenig weiter zur Seite und blickte zu dem Mann auf. Der neigte höflich seinen Kopf.
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