Sonst würde der nächste Krieg nicht gegen die Wüstenstämme, sondern gegen Tolor geführt.
***
Jo legte seine Hand auf die Wand seines Turmes und lauschte dem Strom der Energie. So viel Kraft! So unendlich viel Kraft!
Wie lange bestand die Kristallkammer schon?
Seit mehr als tausend Regenzeiten hatten diese Kristalle nichts weiter gemacht, als die Energie der Stadt Sawateenatari anzuzapfen und zu speichern. Und die Kristalle wuchsen weiter. Regenzeit um Regenzeit. Wofür wurde all diese Energie gespeichert? Und warum war Meister Go lieber aufs Land geflüchtet und hatte in einem primitiven kleinen Steinturm gewohnt, wenn er doch hier hätte leben können?
Jo verzog das Gesicht. Für jede Frage, die er beantworten konnte, taten sich ein Dutzend weiterer, unbeantworteter auf. Aber vielleicht konnte sein derzeitiger Lehrer, Meister Ri, ihm wenigstens ein paar davon beantworten. Es wurde Zeit für seinen täglichen Unterricht.
Meister Ri empfing ihn mit seinem üblichen leutseligen Lächeln. „Ein wunderschöner Tag!“, strahlte er über beide Pausbacken und wippte auf den Zehenspitzen, dass sein kugeliger Bauch wie Brei wackelte. „Was lernen wir denn heute? Ach ja, wir waren bei den einfachen Feldzaubern stehen geblieben.“
Jo stöhnte. Noch ein Tag mit Schädlingsbekämpfungszaubern, Anti-Rostpilz-Zaubern und primitiven Fruchtbarkeitszaubern. So würden seine Fragen nie beantwortet werden. Er wagte einen direkten Vorstoß.
„Meister Ri, ich weiß, das hat nichts mit unserem heutigen Thema zu tun, aber ich muss unbedingt etwas wissen.“
„Schieß los, Junge.“
„Die Kristallkammer besteht aus reiner Energie“, begann Jo zögernd.
Meister Ris Lächeln wurde etwas weniger leutselig.
„Das heißt, wir benutzen Energie, um Materie zu erzeugen.“
Meister Ris Lächeln fror ein.
„Könnte man dann nicht auch umgekehrt Materie benutzen, sie zerlegen, um Energie zu erzeugen?“
Meister Ris Lächeln zersplitterte. Er holte tief Luft. „Nein!“ Mit Nachdruck setzte er hinzu: „Auf gar keinen Fall!“
„Warum nicht?“
„Das hat schon einmal jemand versucht. Meister Ki, vor rund 600 Regenzeiten.“
„Und?“
„Von ihm und seinem Turm ist nur noch ein ziemlich großer Krater übrig geblieben.“
*
Jo musterte seine Bibliothek. Nicht gerade umwerfend. Ein paar zerfledderte alte Bände über Spiegel-Magie-Grundlagen, die er aus der allgemeinen Bibliothek entliehen hatte. Und ein Buch über Rufzauber. Keines dieser Bücher hatte ihm umwerfende Neuigkeiten verkünden können. Außerdem hatte er im Moment absolut keine Lust auf weitere trockene Traktate über irgendwelche kleinlichen Zaubereien. Er beschloss, sich zur Entspannung heute einfach einmal der Vergangenheit zu widmen. Entschlossen griff er nach dem kleinen blauen Büchlein aus Meister Gos Bibliothek.
Der Einband fühlte sich wie Seide an. Ein sehr unpraktischer Einband für ein Gebrauchsbuch. Na ja, ein Zauberer hatte natürlich Möglichkeiten, Bucheinbände zu säubern. Jo öffnete das Buch.
Ungläubig starrte er auf die Zeichnung. Auf der ersten Seite prangte eines der alten königlichen Wappen von Karapak. Darunter das Namenszeichen des Besitzers. Goratamonahne. Das durfte doch nicht wahr sein! Go war aus königlichem Geschlecht! Die Sippe Nahne hatte Karapak fast 600 Regenzeiten lang regiert, bevor die heutige Königssippe, die Mehmes, die Führung übernommen hatte. In allen Geschichtsbüchern stand, dass das königliche Haus Nahne damals mangels Erben ausgestorben war. Was niemanden wunderte, hatte doch die Sippe Mehme alle männlichen Mitglieder der Sippe Nahne kurzerhand umbringen lassen, bis hin zum letzten noch ungeborenen Kind.
War das der Grund, warum Go sich in der Provinz verkrochen hatte? Weil er sich verstecken wollte, um sein Leben fürchtete? Oder – Jo kam ein anderer Gedanke. Hatte Meister Go nur einen Platz gesucht, an dem er ungestört gegen das Haus Mehme konspirieren konnte? Plötzlich machte König Kanatas allseits bekannte Abneigung gegen Zauberer sehr viel mehr Sinn.
Vorsichtig, als könne das Buch ihn beißen, wandte Jo die nächste Seite um. Schöne, geschwungene Buchstaben, vielleicht ein klein wenig zittrig geschrieben, die er nur zu gut von den Kochbüchern her kannte. Nur dass dies kein Kochbuch war. Es schien sich vielmehr um private Aufzeichnungen Gos zu handeln. Das war wirklich ein interessanter Fund. Jo suchte sich einen bequemen Sessel, zauberte mit einer Handbewegung ein paar Kleinigkeiten zu Essen und zu Trinken herbei, und begann zu lesen.
Ich weiß nicht, was ich schreiben soll. Ich weiß nicht, was ich denken soll. Mein Kopf will keine Worte formen. Die schrecklichen Bilder, die ich gesehen habe, überdecken alles. Mein Bruder, der König. Seine leeren Augen in dem hohlwangigen Gesicht, die zur Decke heraufstarrten. Er war der einzige, der nicht blutüberströmt war, ihn hatte das Flussfieber getötet und damit die Bahn frei gemacht für den Putsch. Ich weiß nicht mehr, warum ich so wild darauf war, im Palast nachzusehen. Meister Ow hatte recht, dass er mich zurückhalten wollte. In meiner jugendlichen Narrheit wollte ich nicht hören. So habe ich sie alle gesehen. Meine Brüder, meine Schwestern, die vielen Kinder. Alle tot. Ströme von Blut sind durch den Palast geflossen. Auch wenn die Mehmes selbst die meisten Frauen des Königshauses verschont hatten, so war doch kaum noch eine von ihnen am Leben. Meine Schwestern hatten es vorgezogen, ihrem Leben auf ehrbare Weise ein Ende zu bereiten, anstatt als niedere Dienerinnen und Konkubinen im Hause Mehme ein elendes Dasein zu fristen.
Auch meine Zwillingsschwester Laranainata fand ich mit dem Dolch im Herzen. Ihr Unterleib war entblößt, ihre Beine blutüberströmt.
Hätte mein Eid mich nicht zurückgehalten, ich hätte in diesem Moment mit dem größten Vergnügen den ganzen Palast dem Erdboden gleich gemacht.
Oh-oh. Das klang aber ganz anders als in den Geschichtsbüchern. Wie hatte einer seiner Lehrer es noch mal gesagt? Ach ja: „Die Geschichte wird von den Siegern geschrieben.“ Zu den Siegern zählte das Haus Nahne offensichtlich seit diesem Putsch nicht mehr.
Jo blätterte weiter. Die ersten sechs Dutzend Seiten schienen mehr eine Art inneres Zwiegespräch zu sein. Go schrieb hier über sich, über die Geschichte seiner Familie, seine vergeblichen Hoffnungen und seine Alpträume. Die Schrift war unregelmäßig, fast wie zerhackt. Im zweiten Drittel des Buches wandelte sich der Schreibstil. Die Buchstaben wurden wieder flüssiger und gleichzeitig kleiner. Es war, als ob zwischen diesen beiden Eintragungs-Teilen eine längere Zeit verstrichen war. Hier schrieb Meister Go über seine Arbeit als Zauberer.
Sieh an, da tauchte auch etwas auf, was Jo dringend interessierte! Meister Go beschrieb seine eigenen Zauber-Experimente. Vielleicht konnte er hier mehr über die Spiegelmagie lernen.
Ich habe heute wieder versucht, Kontakt mit Adept Rak im Spiegel aufzunehmen. Es ist, als würde man mit einem Schlafwandler zu kommunizieren versuchen. Aber ich bin überzeugt, dass Raks ganze Wesenheit noch vollständig erhalten ist. Solange man den Spiegel nicht verbraucht, bleibt die Lebensenergie der Seelen erhalten, heißt es. Ich glaube, es ist mehr als nur die Seele, die im Spiegel erhalten bleibt. Theoretisch müsste es möglich sein, eine Seele mitsamt ihrem Körper wieder aus dem Spiegel herauszulösen. Theoretisch. Ich traue mich nicht, tiefer in den Spiegel einzutauchen. Meisterin Ak hat mich gewarnt. Ein Spiegel vermag einen zu schwachen Zauberer aus eigener Kraft zu schlucken.
Jo setzte sich fasziniert auf. Man konnte Seelen aus dem Spiegel wieder herausholen? Sein Freund Tev saß in so einem Spiegel fest. Was, wenn er ihn retten könnte? Wie weit war Go mit seinen Experimenten gekommen?
Ich denke, ich werde erst einmal eine Reihe von Experimenten starten. Kleine Spiegel, klitzekleine. Vielleicht aus der Seele einer Maus oder auch nur einer Kellerassel. Die dürften klein genug sein, dass ich gefahrlos damit arbeiten kann.
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