Spiegelmagie Band 9
Chris Svartbeck
©Chris Svartbeck 2021
Machandel Verlag
Charlotte Erpenbeck
ISBN 978-3-95959-331-1
Bildquelle cover: romankybus /www. 123-rf.com
Titelvignette: 4ek/www.shutterstock.com
Alle Personen, Namen und Vorkommnisse in diesem Buch
sind rein fiktiv und haben keine Vorlage in unserer realen Welt.
Was allerdings sehr wohl in unserer realen Welt vorkommt,
sind die diversen kleinen und großen Katastrophen
der zwischenmenschlichen Beziehungen.
Der Falke ist ihr Wappen. Sie tragen ihn selbstbewusst trotz der Schande, die er über sie gebracht hat, denn ihr Stolz ist das Einzige, was ihnen nach der Verbannung ihrer Sippe an die Südgrenze Karapaks geblieben ist. Aber wie lange kann die Fehde der Mehme mit dem Königshaus noch andauern, bevor sie komplett ausgelöscht werden?
Zur zeitlichen Einordnung:
Dieses Buch spielt mehrere Jahrhunderte nach dem Band "Falkenblut", aber noch rund 200 Jahre vor dem Band "Königsfalke"
Hinweis:
Karapak ist eine gewalttätige, extrem patriarchalische Welt. Das Leben eines Mannes gilt wenig, das von Frauen und Kindern noch weniger, und eine falsche Geste kann Kriege auslösen.
Dass die Zauberer ebenfalls über Leichen gehen, ist noch ihre liebenswürdigste Seite.
„Das ist nicht dein Ernst!“ Großmeister Ro starrte Ze Braunhand fassungslos an.
„Kein einziger?“
„Kein einziger!“, bekräftigte Ze.
Ro sank fassungslos auf den Schemel. Das fehlte gerade noch. Die Kristallkammer war seit dem Aufstand chronisch unterbesetzt. Es hatte ihn mehr als drei Menschengenerationen Zeit gekostet, sie auch nur einigermaßen wieder arbeitsfähig zu bekommen. Aber wenn jetzt auch noch der Rohstoff fehlte ...
„Hast du in den Eisbergen nachgesehen? In den östlichen Himmelsbergen? Und im Süden?“
„Vom Nordmeer bis in die letzte Spitze der Drachenschwanzberge. Nichts. Nirgends. Kein einziger Drache mehr.“
Der letzte Sucher hatte noch Drachen fliegen sehen. Zugegeben, nur zwei sehr müde, alte Drachen, aber trotzdem ...
Das war wie lange her? Ro rechnete nach. Achtzehn Regenzeiten. Das bedeutete, sie hatten keine Jungen mehr gezeugt.
Und ohne junge Drachen gab es auch keine jungen Zauberer.
Ro wurde heiß und kalt zugleich. Sie waren die letzten. Außerhalb dieser kristallinen Wände gab es keinen einzigen Zauberer der ersten Generation mehr. Keine Verstärkung. Keinen Nachwuchs. Sie hatten ihren Ursprung verloren.
Und damit die Quelle ihrer Kraft.
Ro spürte, wie sich eine eisige Faust um ihn schloss. Wie sollte er das den anderen erklären?
Mit einer schroffen Handbewegung entließ er Ze Braunhand. Dann trat er an die Wand, zog mit dem Zeigefinger eine kaum sichtbare Linie nach. Die Wand wurde wasserklar.
Tief unter ihm lag Sawateenatari, ausgebreitet und übersichtlich wie eine Landkarte. Weit genug weg, dass er weder von dem Dreck noch von dem Lärm belästigt wurde. Nah genug, um alles im Auge zu behalten. Auch ... Ros Blick wanderte zu dem höchsten Punkt der Anhöhe, auf der die Stadt gegründet worden war. Schlanke Türme, trutzige Mauern. Der Palast. Die einzige andere Quelle der Zauberei, die Karapak verblieben war.
Und tabu.
Dieser verdammte Pakt. Welcher Sandteufel hatte ihn damals bloß bewogen, so einem hirnverbrannten Blödsinn zuzustimmen? Gewaltentrennung. Pah! Wo doch sowieso ein Zauberer auf dem Thron saß. Aber die Kristallkammer hatte es geschrieben und geschworen. Keine Einmischung in die Politik oder in Belange des Königshauses. Also konnte er von dort keinen Nachschub bekommen. Keine Zauberer und erst recht keine neuen Spiegel. Von den sehr wenigen Mitgliedern abgesehen, die freiwillig kamen, war die Nahne-Sippe für ihn sakrosankt.
Allerdings nur so lange, wie sie das Königshaus stellten.
Das musste nicht für immer sein.
Vielleicht ergab sich ja eine Möglichkeit ...
Ro war bereit, geduldig darauf zu warten. Mit Warten kannte er sich aus. Das hatte er schon einmal über ein paar Jahrhunderte bewiesen. Und gegebenenfalls konnte er ja etwas nachhelfen, wenn es zu lange dauerte.
„...und Tariki hat definitiv zu viel für sein neues Pony bezahlt!“
Akiana drückte sich tiefer in die Nische und zog ihr Schultertuch über den Kopf. Mit etwas Glück würden ihre jüngeren Brüder sie für eine der Dienerinnen halten und nicht beachten.
„Das Pony hatte aber das Flussuferrennen gewonnen!“
„Klar hat es. Graf Mischekoko soll schließlich die anderen Reiter kräftig bestochen haben, dass sie ihre Ponys zurückhielten.“
„Schlauer Sandteufel!“
Schritte und Gespräch verklangen. Akiana atmete auf. Ihre Brüder hatten sie nicht bemerkt. Vorsichtig streckte sie den Kopf aus der Nische und spähte den Flur entlang. Niemand in Sicht. So lautlos wie möglich folgte sie den Prinzen.
Onkel Toleke wartete bereits im Lilienhof auf seine Schüler. Sehnsüchtig dachte Akiana an die Zeit, als sie noch offen am Unterricht teilnehmen konnte. Onkel Toleke hatte nie kapiert, dass sie nur ein Mädchen war. Was, wie ihr Vater ihr mit grimmiger Miene mitgeteilt hatte, daran lag, dass Toleke kein besonders starker Zauberer war. Der kleine Zauber, der ihre Haare immer wieder abbrechen ließ und somit kurz hielt, hatte ausgereicht, Toleke in die Irre zu führen, und er hatte nicht einmal bemerkt, dass sie überhaupt einen Zauber auf sich gelegt hatte. Bei ihm, hatte ihr Vater hinzugefügt, wäre sie mit derartigen Narrheiten niemals durchgekommen. Und falls sie das je noch einmal versuchen sollte ...
Er hatte seine Drohung nicht aussprechen müssen. Akiana hatte mehr als eine Frau im Sommerharem sterben sehen, die den Unmut ihres jähzornigen Vaters erregt hatte. Selbst einer seiner Söhne hatte erfahren müssen, zu was ihr Vater fähig war. Ihr jüngster Bruder Piritoka war kaum fünf Jahre alt gewesen, als die junge Katze, mit der er so gerne spielte, dem Vater zwischen die Beine lief und ihn ins Straucheln brachte. Akiana hatte das wutverzerrte Gesicht ihres Vaters gesehen, als er Piritoka befahl, dem unnützen Tier auf der Stelle die Kehle durchzuschneiden. Ihr Bruder hatte es nicht fertiggebracht und zu weinen begonnen. Da hatte der Vater die Katze ergriffen und ihr vor den Augen des Kleinen den Kopf abgeschnitten.
Und dann hatte er das Gleiche mit ihrem Bruder getan.
Hastig verdrängte sie die Erinnerung und konzentrierte sich auf das, was Onkel Toleke gerade erklärte. Trugbilder, wie schon seit sechs Tagen. Trugbilder waren überaus nützlich. Ihre Mutter liebte es, Trugbildschmuck zu tragen. Der echte Schmuck war ihr viel zu schwer, den benutzte sie nur zu besonders feierlichen Anlässen.
Onkel Toleke allerdings zählte gerade einige Beispiele für eine viel nützlichere Anwendung auf. Zum Beispiel, dass man damit einem einfachen Stock das Aussehen eines gefährlichen Schwertes geben konnte.
„Wenn die Illusion gut genug ist, glaubt dein Gegner sie. Und wenn er sie fest genug glaubt, vermag ihn selbst eine bloße Illusion zu töten.“
„Und wenn er sie nicht fest genug glaubt?“
„Dann braucht ihr zusätzlich zu der Illusion noch eine Transformation. Selbst Holz vermag zu schneiden, wenn man ihm eine scharfe Kante verleiht. Aber so weit seid ihr noch nicht. Versucht bitte erst einmal die Illusion.“
Akiana pflückte sich ein Oleanderblatt aus dem nahen Pflanzkübel und konzentrierte sich. Drei Herzschläge später hielt sie einen schlanken, nadelspitzen Dolch in der Hand. Töten würde sie damit nicht können. Blätter waren einfach nicht so stark wie Holz. Andererseits ... Waren nicht Blatt wie Holz Produkte einer Pflanze? Wenn die Pflanze das eine wie das andere erschaffen konnte, war es vielleicht möglich, beides ineinander umzuwandeln. Sie konzentrierte sich erneut. Das Trugbild in ihrer Hand wurde schwerer, größer, passte seine Form ihren Gedanken an. Vorsichtig fühlte sie mit der anderen Hand die Klinge entlang. Tatsächlich. Echtes Holz.
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