Er ging schwerfällig zum Tisch zurück. Dort drehte er sich noch einmal um. „Der Abschied wird für keinen von uns leichter, wenn du wartest. Nun geh schon!“
Akiana sagte nichts. Sie wusste, Onkel Toleke sah ihre Aura, so wie sie die seine sah. Er machte sich nicht mehr die Mühe, seine Zuneigung zu verbergen. Sie verbeugte sich tief und verließ den Raum.
Onkel Toleke verließ den Palast bereits am nächsten Morgen. Aber erst einen halben Mond später traute sich Akiana, das Buch zu öffnen. Es war handschriftlich verfasst, ganz offensichtlich von Onkel Toleke selbst. Kurze, präzise Anweisungen, wie man magiebegabte Kinder zu unterrichten hatte, ohne dass sie sich selbst oder andere Menschen dabei umbrachten. Und einige einfache Zauber, die man auch ohne Spiegel ausführen konnte, zusammen mit der Warnung, sie nicht allzu häufig einzusetzen, weil jeder Zauber ein Stück der eigenen Lebenskraft verbrauchte. Zauber, die nützlich waren, wenn man es mit Menschen zu tun hatte, deren Hauptinteresse vermutlich daraus bestand, einem zu schaden. Tarnzauber, Spionagezauber, Schutzzauber, rasche Übermittlung von Nachrichten und dergleichen mehr. Akiana prägte sich genau ein, was in dem dünnen Büchlein stand. Der Tag mochte kommen, an dem sie das Buch nicht mehr besaß, es vielleicht sogar zerstören musste. Sie durfte nichts davon vergessen. Vor allem nicht, wie sie ihre Aura manipulieren konnte. Weder ihr Vater noch ihre Brüder durften jemals herausfinden, wie stark ihre Zauberkraft war. Sonst wäre ihr ein Schicksal als Spiegel sicher.
Während des langen Ritts nach Norden war die Stimmung gedrückt. Kämpfe gegen die Nordmänner bedeuteten regelmäßig starke Verluste. Ajitakas Brüder waren schweigsam, und wenn sie doch einmal sprachen, dann schroff und abweisend. Die Chancen, dass sie von diesem Feldzug nicht zurückkehren würden, waren mehr als groß. Seit in der Bevölkerung kaum noch starke magische Talente geboren wurden, waren die Könige Karapaks dazu übergegangen, Reserven für ihre Kampfspiegel unter ihren eigenen Kindern zu suchen. Ajitaka war sich verdammt sicher, dass sein Vater diese Reserve nutzen würde. Die Aura des Königs zeigte nur zu deutlich, wie wenig Kraft ihm noch verblieben war.
Allerdings war er selbst jetzt noch bedeutend stärker als fast alle seine Söhne. Ajitaka war sich nicht einmal sicher, dass er selbst genug Magie besaß, um im Fall der Fälle gegen seinen Vater zu bestehen.
Es war kalt hier im Norden. Die Soldaten froren, die Offiziere froren, die Königssöhne froren. Der König fror nicht, der trug ein mit Magie aufgeladenes Gewand, das ihm angenehme Wärme spendete.
Auf der Höhe der Grauen Schluchten begann es zu regnen. Regen in der Trockenzeit? Ajitaka war mehr als schockiert. War die Kälte vorher lästig gewesen war, wurde sie jetzt mehr als unangenehm. Durch die nasse Kleidung drang die Kälte noch leichter. Nach der ersten Nacht in einem kalten Zelt auf noch kälterem Boden schuf Ajitaka aus einem herumstreunenden Dorfhund einen Seelenspiegel und sorgte dafür, dass er einen magischen Schutzschuld bekam, der den Regen ab- und die Kälte fernhielt. Sein Vater gab keinen Kommentar dazu. Er lächelte nur spöttisch.
Drei Tage machten sie in eine Befestigung am Grenzfluss Halt. Auch wenn mehr als die Hälfte der Gebäude beim letzten Überfall zerstört worden war, hatten sie hier doch wenigstens ein notdürftiges Dach über dem Kopf und eine warme Küche.
Am vierten Tag klarte der Himmel auf. Der König gab Befehl zum Aufbruch.
Der Wind war weiterhin kalt, doch die Sonne schien. Und weit und breit kein Zipfel von den Nordmännern zu sehen. Die Laune der Soldaten hob sich.
Die des Königs wurde immer schlechter.
Am späten Vormittag des elften Tages öffnete sich die hügelige Landschaft zu einer weiten grünen Ebene. Der König befahl anzuhalten. Mit gerunzelter Stirn betrachtete er das Gelände. „Wo immer die Nordmänner sind, dort sind sie ganz offensichtlich nicht. Irgendetwas stimmt hier nicht. Schlagt das Lager auf. Mit extra Palisaden und vierfachen Wachen.“
Die Soldaten tauschen beunruhigte Blicke. Die Söhne des Königs warteten stoisch, bis ihr Vater sie zu sich in das königliche Zelt rief.
Er musterte sie finster. „Es ist völlig unmöglich, dass die Nordmänner unser Eindringen in ihr Land nicht bemerkt haben. Sie beobachten uns, das spüre ich. Vermutlich wollen sie uns eine Falle stellen. Oder sie haben es bereits getan, und wir haben es nicht bemerkt.“ Er legte einen Spiegel vor sich auf den Klapptisch. Einen Arbeitsspiegel von ungefähr Handgröße. Ein Wink seiner Hand. „Sahotep!“
Der jüngste seiner anwesenden Söhne trat mit unsicheren Schritten an den Tisch. „Hast du schon einmal mit einem Spiegel spioniert?“ Der junge Mann bejahte mit einer zittrigen Geste.
„Weißt du, wie man mit einem Spiegel Energiesignaturen findet?“
„Onkel Toleke hat uns darin unterrichtet.“
Der König deutete auf den Arbeitsspiegel. „Ich habe vorhin einen Fährtensucher ausgeschickt. Versuch über den Spiegel, seinen Standort zu finden.“
Mit sichtlicher Erleichterung nahm Sahotep den Spiegel auf und aktivierte ihn. Es dauerte ungefähr zwanzig Herzschläge, bis er ihn vorsichtig wieder auf den Tisch sinken ließ. „Der Fährtensucher ist im Südwesten, ungefähr zweitausend Pferdelängen entfernt.“
„Offenbar war Toleke doch zu etwas nütze.“ Der König griff nach dem Spiegel. Und berührte damit seinen Sohn.
Sahotep war so überrascht, dass er nicht einmal aufschrie, als der Spiegel ihn aufsog.
„Ihr anderen könnt gehen. Alle, außer Ajitaka.“
Er wartete, bis er mit seinem ältesten Sohn alleine im Zelt war. „Was denkst du, warum ich das getan habe?“
„Weil es einfacher ist, einen Spiegel etwas ausführen zu lassen, was er bereits kennt.“
Einen Moment sah der König fast zufrieden aus. „Richtig. Ich werde versuchen, mit diesem Spiegel die Nordmänner zu finden. Deine Aufgabe wird es sein, dafür zu sorgen, dass ich nicht gestört werden.“
Ajitaka ging wortlos an den Eingang des Zeltes und stellte sich davor. Hinter ihm war es zunächst ruhig. Dann hörte er den Atem seines Vaters, hörte ihn nach und nach lauter werden, dann ein Keuchen und Klirren.
„Nichts“, hörte er ihn schließlich sagen. Vorsichtig drehte er sich wieder um. Der Spiegel war nur noch ein formloser Metallklumpen, sein Vater sah müde und um Jahre gealtert aus. „Da draußen ist etwas, aber es versteckt sich hinter einer magischen Barriere. Beim nächsten Versuch brauche ich einen stärkeren Spiegel.“
Der nächste Versuch kostete zwei weitere seiner Söhne. Aber der König fand, was er gesucht hatte. Nur zu spät. Noch während er in seinem Zelt versuchte, wieder zu Atem zu kommen, griffen die Nordmänner an. Es war, als ob der Boden sie ausspie. Wilde Gestalten, mit Erde beschmiert, mit Moos und Zweigen bedeckt, darunter fast nackt, in jeder Hand Schwert oder Axt. Sie sprangen über die Palisaden, hieben und stachen um sich und flohen so rasch in das Gestrüpp zurück, wie sie gekommen waren.
Dann war es gespenstisch ruhig, bis auf das Jammern der Verwundeten.
Die Bestandsaufnahme war mehr als düster. Gut ein Zehntel der Männer war tot oder kampfunfähig. Und nur zwei der Nordmänner waren auf der Strecke geblieben.
In der Nacht flogen Brandpfeile. Lediglich das königliche Zelt, durch Zauber geschützt, blieb unversehrt. Die Verwundeten verbrannten in ihren Zelten. Ajitaka schauderte bei ihren Schreien. Sein Vater schien es nicht einmal zu hören.
Und im ersten Morgengrauen griffen die Nordmänner ein zweites Mal an, nur um sich ebenso schnell wie beim ersten Mal zurückzuziehen. Dieses Mal allerdings erwarteten sie kampfbereite Soldaten, und auch die Nordmänner hatten Verluste. Trotzdem gab es zu viele neue Tote.
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