Ak zuckte zusammen. Offenbar hatte sie den jungen Zauberer unterschätzt. Na lag wohl richtig mit seiner Einschätzung. Jo war gefährlich – er war bereits jetzt ein Zauberer dritten Grades und eindeutig steigerungsfähig. Es wurde allerhöchste Zeit, dass der junge Bursche eine vernünftige Ausbildung bekam.
Jo ignorierte die Abgesandte der Kristallkammer. Im Moment fand er die Tür viel, viel interessanter. Er stieß sie auf. Vor ihm öffnete sich eine weite, lichtdurchflutete, luxuriös eingerichtete Wohnung. Wo immer die sich befand, im Turm lag sie nicht. Er trat hinein und sah sich staunend um. Buch um Buch standen die gelehrten Werke der Zauberei auf schweren Regalen an den Wänden. Hier war der Wissensschatz, den er vergeblich gesucht hatte. Und den er, wie ihm mit jäh aufsteigender Wut bewusst wurde, vorerst dieser fremden Zauberin überlassen musste. Er ballte die Fäuste. Atmete tief ein. Es hatte keinen Sinn, ausgerechnet jetzt Ärger zu machen. Sein Blick fiel auf ein aquamarinblau leuchtendes Büchlein. Klein und schmal stand es zwischen den dicken, dunkelbraunen Leder-Folianten. Er trat an das Bord, griff sich das Bändchen heraus und steckte es ein. Ak sah ihm schweigend zu, Missbilligung förmlich ins Gesicht geschrieben. Aber dies war sein Turm! Er hatte ihn rechtmäßig erobert! Wenigstens dieses eine Buch würde er zu seiner weiteren Ausbildung mitnehmen, egal, was es enthielt. Und wenn es wieder nur Kochrezepte waren.
Mit hoch erhobenem Kopf marschierte Jo an Ak vorbei und zu dem wartenden Ochsenkarren.
***
Iragana schlug behutsam das Seidenpapier zurück. Ein Geschenk für die Erste Gemahlin des Königs von der Webergilde war immer etwas Besonderes, selbst für ihren verwöhnten Geschmack. Der Stoff, der rosenduftend zum Vorschein kam, schimmerte irisierend grün auf Purpur. Winzige goldene Blüten schmückten ihn. Iragana seufzte bewundernd. Eine meisterliche Arbeit. Sie schüttelte den hauchdünnen Schal aus. Blütenblätter fielen herab. Samtene goldfarbene Gebilde, die kleine dunkle Flecken aufzuweisen schienen. Aber niemand würde wagen, der ersten Gemahlin verdorbene Blütenblätter zu schicken. Iragana griff rasch nach ihnen, sammelte sie auf. Ihre Hofdamen durften diese spezielle Gabe nicht zu Gesicht bekommen. Vorsichtig breitete sie die zarten Gebilde vor sich aus, schob sie ein wenig herum, bis die Reihenfolge stimmte und sie den Brief lesen konnte.
„Verzeiht die ungewöhnliche Art der Kontaktaufnahme. Die Wachen um den Palast sind verstärkt, ebenso wurde der Schutzbann durch einen Blutzauber aufgefrischt, ich kann daher zurzeit nicht selbst kommen.“
Nun, das war ihr durchaus bekannt.
„Wir empfehlen Euch, vorerst nichts weiter zu unternehmen. Die Lage ist zu unsicher.“
Als wenn sie das nicht wüsste ...
„Insbesondere Euer Sohn sollte seinen üblichen Beschäftigungen nur mit äußerster Vorsicht nachgehen.“
Auch das war ihr bewusst. Nur ihrem Sohn nicht. Erst gestern hatte sie wieder eine tote Dienerin in seinen Gemächern gefunden ...
„Wir müssen die Hochzeit abwarten. Erst danach werden sich wieder gute Chancen bieten, Eure Pläne zu verwirklichen. Bis dahin sollte auch der Blutzauber abgeklungen sein, sodass ich wieder persönlich zu Euch gelangen kann.“
Nichts wirklich Neues. Den Brief hätte sich ihr Kontaktmann sparen können. Iraganas Blicke wanderten zu dem wunderschönen Schal. Nein, vielleicht hätte er ihn sich doch nicht sparen können. Der Schal sah wirklich einzigartig aus.
Sie nahm das erste Blütenblatt zwischen Daumen und Zeigefinger und rollte es, bis es zu einem unscheinbaren matschigen Klümpchen geworden war. Systematisch ließ sie die anderen folgen. Kein einziges Blatt durfte zurückbleiben.
Die Klümpchen schüttete sie vorsichtig in den Goldfischteich. Zufrieden sah sie zu, wie die Fische behäbig Blatt um Blatt von der Wasseroberfläche zupften und fraßen.
*
Ioro biss die Zähne zusammen. Nicht nur, dass seine linke Seite immer noch höllisch schmerzte, seine Beine schienen weich wie Wachs zu sein.
„Seid Ihr sicher ...“, begann Mane.
„Ich bin sicher!“, fauchte Ioro. „In zwei Monden soll mein Bruder heiraten. Wer, wenn nicht ich, soll wohl seine Braut nach Sawateenatari geleiten?“
Mane verkniff sich eine Antwort. Er konnte nur hoffen, dass die Genesung Ioros mit dessen Willenskraft Schritt hielt.
Der Falke schrie, als Ioro die Tür öffnete. Ioro verharrte. Sah zurück zu dem Falken, der vergeblich versuchte, sich mit seinen verbrannten Flügeln in die Luft zu erheben. Dann wankte er mühsam, Schritt um Schritt, zurück ins Zimmer und streckte die Hand nach dem Falken aus. Einen Moment lang regte sich niemand. Dann krächzte der Falke und sprang mit einem ungelenken Satz auf Ioros Hand. Ioro setzte ihn behutsam auf seiner gesunden Schulter ab. Die Falkenkrallen bohren sich durch seine Haut, als der Vogel nach Halt suchte. Ioro wartete, bis der Falke sein Gleichgewicht gefunden hatte. Dann arbeitete er sich entschlossen wieder zur Tür.
*
Kanata hörte das Klicken der Krücken auf dem Marmorboden. Ioro kam. Schon wieder. Sein ältester Sohn zeigte sich überaus besorgt um das politische Geschehen und die baldige Heirat seines Bruders. Zu besorgt. Der Seher hatte gesagt, Ioro sei loyal gegenüber dem Reich. Von seinem Vater und König hatte der Seher nicht gesprochen.
Erneut verfluchte Kanata das Schicksal. Ein Thronerbe, dessen Lebensinhalt darin zu bestehen schien, andere Lebewesen zu quälen und zu töten, und ein oberster Feldherr, der lahm war und mit Zauberern konspirierte. Beide Söhne hatten ihn enttäuscht. Wobei er immer noch nicht sicher war, welcher von beiden ihm zu schaden trachtete. Womöglich alle beide. Bei den Sanddämonen! Hätte nicht ein anderer seiner Söhne die Kindheit überleben können?
Aber natürlich wusste er die Antwort. Mit Tolioro im Palast hatte keiner der anderen Jungen auch nur den Hauch einer Chance gehabt, jemals erwachsen zu werden. Und er selbst hatte Tolioro gewähren lassen, eingedenk der Tatsache, dass auch er selbst etliche seiner Brüder hatte töten müssen, um den Thron zu ergattern. Etliche. Aber nicht alle. Tolioro war gründlicher. Tolioro war selbst ihm unheimlich.
Ioro verbeugte sich mühsam. Sein linkes Bein wollte sich nicht biegen, die dicken Narben spannten noch zu sehr. Kanata sah ihn kaum an. Ganz offensichtlich war sein Vater noch nicht bereit, ihm zu vergeben, was immer er auch in der Öffentlichkeit sagen mochte. Ioro wartete.
„Komm näher.“ Kanatas Stimme klang kalt. „Die Brautkarawane wird in zwei Tagen aufbrechen. Wir müssen einen geeigneten Anführer suchen.“
Ioro zuckte zusammen. „Aber traditionell führt diese Karawane der Heerführer des Bräutigams. Habt Ihr mir diesen Posten nicht wieder zugestanden?“
Sein Vater verzog keine Miene. „Ich kann keinen Krüppel an die Spitze der Brautkarawane setzen. Das könnte König Dacas von Tolor als Beleidigung auffassen.“
„Ich bin kein Krüppel!“
Kanatas Blick wanderte betont zu den Krücken in Ioros Händen.
Ioro warf sie mit zorniger Bewegung fort und richtete sich kerzengerade auf. Schmerz stach grellweiß durch seine vernarbte Seite, aber er ignorierte ihn. „Manes Idee“, sagte er. „Ihr solltet ihn kennen, Vater, schließlich ist er Euer Leibarzt. Er ist einfach übervorsichtig.“
„So“, sagte Kanata ausdruckslos. „Nun gut, dann wirst du die Brautkarawane leiten, wie geplant. Wir müssen noch einige Details besprechen. Schreiber!“
Der Schreiber wieselte dienstbeflissen heran. Ioro ging mit hölzernen Schritten zum Tisch. Eine falsche Bewegung und er fiele hin. Diese Blöße durfte er sich auf keinen Fall geben.
Und während Kanata diktierte, stand Ioro vor dem Tisch und wartete geduldig, den Schmerz weiterhin ignorierend.
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