Endlich Abend. Ioro stützte sich unauffällig am Sattelknauf ab. Ein ganzer Tag im Sattel forderte seinen Tribut. Mane hatte recht gehabt, er war noch nicht vollständig genesen. Eigentlich hätte er den Brautzug nicht anführen dürfen in seinem Zustand. Aber das würde er ganz bestimmt nicht zugeben. Der Weg nach Tolor war lang. Bis er dort eintraf, sollte er seine alte Kraft wieder hergestellt haben.
Auf seiner Schulter schrie der Falke und schlug kurz mit seinen verstümmelten Flügeln. Der Vogel würde es wohl nicht schaffen, bis zu ihrem Eintreffen in Tolor wieder fliegen zu können. Die nächste Mauserzeit lag noch in etlichen Monden Entfernung. Und der Falkner war sich nicht sicher gewesen, ob in dieser Mauser wieder gesunde Federn nachwachsen würden. Möglicherweise blieb der Falke für immer verkrüppelt.
Aber egal. Er war wieder draußen, raus aus der Stadt, raus aus dem Palast, raus aus der erstickenden Verehrung der Diener und dem lähmenden Misstrauen seines Vaters. Und vor allem weit, weit weg von Tolioro.
***
Jo versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Irgendwie war so eine Stadt doch wesentlich beeindruckender, wenn man als Mensch darin stand, als wenn man sie als Falke von oben sah. Den Kristallpalast hatte er sich irgendwie kompakter vorgestellt. Ein wenig so wie Meister Gos Turm. Aber das, was da vor ihm emporragte, war alles andere als kompakt. Höher als selbst der Königspalast, eine eisklare, glatte Fassade ohne ein einziges Fenster, die oben in einer Vielzahl kleiner, scheinbar nadeldünner Türme auslief. Den Vögeln nach zu urteilen, die als winzige Punkte um diese Turmnadeln kreisten, waren sie allerdings wohl gar nicht so klein und dünn. Ein Tor war auch nicht zu sehen. Der Ochsentreiber hatte einfach an diesem Punkt der Fassade halt gemacht, ihn ausgeladen mitsamt seinem Gepäck, und war verschwunden. Andere Menschen waren keine zu sehen. Überhaupt wirkte die Stadt in direkter Nähe des Kristallpalastes wie tot. Etliche Häuser zeigten deutliche Verfallserscheinungen. Nicht einmal Bettler oder Gassenkinder waren irgendwo zu sehen. Und Jo hatte nicht die geringste Ahnung, was er jetzt machen sollte.
Probehalber trat er an das Mauerwerk heran und berührte es. Nein, Mauerwerk war irgendwie auch nicht der richtige Ausdruck. Das war zwar so etwas wie Stein, aber er konnte keinerlei Fugen entdecken. Nahtlos glatt zog sich die Masse unter seinen Fingern hin. Eigentlich sah sie auch nicht wie Stein aus. Eher wie Glas, Glassteine. Glaskristalle. Hieß die Wohnstätte der karapakischen Zauberer etwa darum Kristallkammern? Und in der Mauer pulsierte Magie. Deutlich mehr als bei Meister Go. Wo der alte Turm ein beständiges Rauschen erzeugt hatte, dröhnten diese Mauern fast. Jo nahm hastig die Hand zurück.
Ein Tor hatte er aber auch mit seinen magischen Sinnen nicht spüren können.
Na und Uk beobachteten den jungen Zauberer. Sie waren als Empfangskommando abkommandiert worden.
„Warum kommt er nicht herein? Will er uns absichtlich warten lassen?“
„Glaube ich nicht“, gab Na zurück. „Ich denke, er weiß einfach nicht, wie man hereinkommt.“
„Was? Das kann doch jeder Adept im zweiten Lehrjahr!“
„Soweit ist Jo als Adept nie gekommen!“, erinnerte Na ihn. „Und jetzt ist er Zauberer, aber ein extrem schlecht ausgebildeter. Ich fürchte, wenn wir ihn nicht holen, steht er morgen noch dort.“
Die beiden Zauberer wechselten einen amüsierten Blick. Dann gaben sie der Wand das Kommando, sich zu öffnen.
Die Wand vor ihm schien zu zerfließen. Ein großer Tunnel öffnete sich, an seinem Ende erwarteten ihn zwei Männer. Einen davon kannte er: Na. Jo sammelte seine Habseligkeiten ein und marschierte forsches Schrittes in den Tunnel. Hinter ihm schloss sich die Fassade wieder zu einem undurchdringlichen Panzer.
Na zeigte ein irgendwie süffisantes Lächeln. Sein ehemaliger Lehrer sah beinahe unverschämt gut aus. Das Leben in der Kristallkammer schien ihm zu bekommen. Jo musterte ihn mit gemischten Gefühlen. Einerseits war es schön, wenigstens ein bekanntes Gesicht hier zu sehen. Andererseits ... Na hatte sich nicht gerade wie ein Freund verhalten. Noch nicht einmal wie ein Lehrer. Eher wie ein erbitterter Rivale. Jo blieb stumm und wartete.
„Ich bin Uk“, stellte sich der zweite Zauberer vor. Auch er sah jung aus. Aber das taten sie alle. Soweit Jo wusste, konnte Uk genauso gut mehrere Jahrzehnte alt sein wie mehrere Jahrhunderte.
„Na und ich, wir werden dich hier einführen und mit dem Leben in der Kristallkammer bekannt machen. Lass dein Gepäck hier liegen, darum kümmert man sich.“
Jo nickte stumm, behielt aber das Bündel mit seinen Spiegeln und dem kleinen blauen Buch in der Hand. Sicher war sicher.
So imposant die Kristallkammer von außen aussah, so langweilig war sie im Inneren. Eintöniges Weiß überall. Weiße Wände, weißer Boden, weiße Decke. Ein ringförmiger Korridor ohne erkennbare Türen, der einmal um den zentralen Saal herumführte. Und in diesem Saal gab es ein paar kreisförmig angeordnete Sitzreihen. Nicht viele. Jo schätzte den Raum auf ungefähr acht Dutzend Plätze. Höchstens. Einige Kristalle waren auch zu sehen, aber nicht mehr und nicht imposanter als in Meister Gos Arena.
Irgendwie enttäuschend.
Eine Etage höher war der Korridor breiter und gesäumt von Büchern. Große, schwerbeladene Regale, die genauso strahlend weiß aus der fugenlosen Wand wuchsen wie alles andere in diesem Bau. Zwischen den Regalen lagen versteckt Türen, die ein Bann schützte.
„Das“, erklärte Na, „sind die privaten Türme der Zauberer. Jeder Zauberer im karapakischen Reich hat hier seinen eigenen Turm.“
„Und auch einige Zauberer aus den angrenzenden Reichen“, ergänzte Uk. „Zwei sind hier aus den Nordlanden und einer von den Inseln. Je höher der Turm, desto wichtiger der Zauberer.“ Er grinste. „Na und ich, wir gehören zu den kleinen Türmen. Du auch, selbstverständlich.“
Jo nickte. Dass er in der Hackordnung ganz unten stand, war ihm ohnehin klar. „Woher kommt das Licht?“, wollte er wissen.
„Das Material ist so eingestellt, dass es Licht von draußen aufnimmt, speichert und über den ganzen Tag gleichmäßig abgibt.“
„So. Und was mache ich, wenn ich es zum Schlafen dunkel haben will?“
„Du kannst selbstverständlich die Helligkeit in deinem Turm regulieren.“
„Wo ist überhaupt mein Turm?“
Uk und Na führten ihn zu einer kleinen, unscheinbaren, ungeschützten Tür zwischen den Regalen mit Büchern über „Fischerei in den Nordmeeren“ und „Rufzauber für Fischer“ auf der einen Seite und „Empfängnisverhütende Zauber für Geflügel“ auf der anderen. Ganz offensichtlich hatte man ihn in die unwichtigste Ecke der Kristallkammer verfrachtet. Und die Tür würde er wohl selbst schützen müssen. Was bedeutete, dass vermutlich jeder stärkere Zauberer seinen Schutz nach Belieben knacken konnte. Und stärker waren hier alle.
Uk und Na erklärten ihm noch, wie er sie rufen konnte, dann ließen sie ihn mit seinem neuen Zuhause allein. Jo stieß die Tür auf. In einem kurzen, engen Korridor standen seine Sachen. Diener gab es hier also offensichtlich auch. Wo mochten sie leben? So, wie die Kristallkammer aufgebaut war, wahrscheinlich im Untergrund. Oder in der Stadt. Aber irgendwie konnte Jo sich nicht vorstellen, dass die Zauberer ihren Dienern erlauben würden, mehr Zeit als unbedingt nötig in der Stadt zu verbringen. Er schnappte sich sein Bündel und stieß die nächste Tür auf. Ein kleiner, runder Raum, in dessen Mitte eine Wendeltreppe nach oben führte. Dem Mobiliar nach so etwas wie ein Esszimmer.
Die Treppe führte in ein weiteres rundes Zimmer. Eindeutig ein Schlafraum. Eine weitere Etage. Hier endete die Treppe. Der Raum war gesäumt von leeren Bücherregalen und Arbeitstischen. An der Wand hingen ebenso leere Haken. Jo packte seine beiden Spiegel aus. Gotetuli bekam den Platz direkt hinter der Treppe. Er verhängte ihn sorgsam. Dann griff er nach seinem Arbeitsspiegel. Zwei Dinge waren jetzt wichtig. Jo konzentrierte sich. Zuerst der Schutzzauber. Der Einfachheit halber zog er ihn durch die ganze Wand seines neuen Turms, inklusive der Tür. Dann ein zweiter Schutzzauber. Wer immer in seinem Arbeitszimmer spionieren wollte, sollte ins Schwitzen kommen. Jo legte alle seine Kenntnisse hinein. So. Das war geschafft. Und jetzt noch ein kleiner Überblick. Er befahl seinen Wänden, durchsichtig zu werden. Der Turm gehorchte. Wörtlich. Nicht nur die Wände, auch der Fußboden wurde durchsichtig. Einen schrecklichen Moment lang hatte Jo den Eindruck, in die Tiefe zu stürzen. Dann fing er sich wieder. Göttin, waren seine Nerven schlecht!
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