Der goldene Schmetterling war fertig. Iragana bewunderte lächelnd ihr Werk.
Die Fäden werden aufgenommen
In der Kristallkammer hatte man eine dringliche Sitzung anberaumt. Großmeister Ro, der oberste Zauberer des Reiches, dessen Haar bereits vollständig weiß war und dessen Alter sich im Dunkel der karapakischen Geschichte verlor, leitete die Versammlung.
„Wir stehen vor zwei Problemen, die an Dringlichkeit einander ebenbürtig sind“, begann er. „Ad eins ist zu klären die wundersame Rettung des Prinzen Ioro vor dem Tod auf dem Scheiterhaufen durch ein vorgebliches göttliches Wunder. Wie wir bereits verifiziert haben, war an diesem Wunder eindeutig ein Spiegelzauber beteiligt. Die Signatur dieses Zaubers ist unbekannt. Wir haben es also mit einem unbekannten Zauberer von ebenfalls unbekannter Stärke zu tun, der im Bereich der Kristallkammer unkontrolliert agiert. Wir sind nicht einmal sicher, ob es ein karapakischer Zauberer ist.
Ad zwei hat es gravierende Verschiebungen im Machtgefüge der Häuser der mittleren Provinzen gegeben. Go wurde durch einen seiner Adepten besiegt.“
Leises Murmeln lief durch den Saal.
„Kollege Os war vor Ort und hat sich ein Bild von der Lage gemacht. Ich ersuche ihn, uns jetzt einen Bericht zu geben.“
Os erhob sich und zückte seinen Spiegel. „Ich habe die Veränderung in den Kraftstrukturen unmittelbar bei Eintreten bemerkt. Alle Anzeichen deuteten auf einen Kampf außerhalb einer Arena hin. Dies habe ich vorgefunden.“
Mit einer Handbewegung schuf er über seinem Spiegel eine dreidimensionale Projektion. Schweigend musterte die Versammlung das Bild der Verheerungen.
„Dies war das Haus von Kollege Go. Er wurde in einen Seelenspiegel integriert.“ Os wandelte das Bild. Jetzt war das Innere des Turms zu sehen. Ein junger Mann stand vor den Spiegeln, die rote Robe verdreckt und zerrissen, die ungekämmten schwarzen Locken wirr im Gesicht, blass und mit Ringen unter den Augen. „Wie ihr sehen könnt, ist der derzeitige Inhaber des Turmes dieser Jo, bis dato Adept im ersten Jahr.“
Erstauntes Murmeln lief durch den Saal.
„Der junge Mann war noch nicht einmal ausreichend geschult, um zu wissen, dass eine Meister-Kampfforderung nur in einer Arena ausgetragen werden darf“, fuhr Os fort. „Offenbar hat ihn das Ergebnis überrascht. Darüber hinaus ist er anscheinend weder fähig, mit der derzeitigen Lage ohne Hilfe umgehen zu können, noch kann man ihn in irgendeiner Weise als fertig ausgebildeten Zauberer betrachten. Damit stellt er eine potenzielle Gefahr für sich und andere da, was umso schlimmer ist, als er seinen Kräften nach bereits mindestens ein Zauberer der vierten Klasse ist, wenn nicht sogar schon der dritten, mit Potenzial zu einem Zauberer erster Klasse.“
Er setzte sich wieder. Diesmal brandete ein Gewirr von Stimmen im Saal auf. Alle der vierundneunzig Anwesenden wussten, was das zu bedeuten hatte.
Ro wartete, bis seine Kollegen wieder zur Ruhe kamen. Dann fasste er den einzigen Zauberer ins Auge, der die ganze Zeit geschwiegen hatte. „Kollege Na! Du hast bei Go gelernt und solltest somit diesen Jo kennen. Hast du eine Erklärung für uns?“
Die Blicke aller Anwesenden wanderten zu dem jüngsten Mitglied der Versammlung.
Der zuckte mit den Achseln. „Jo war immer sehr impulsiv. Vielversprechend, aber eigenwillig. Und sehr experimentierfreudig. Ich kenne Typen wie ihn. Leute, die immer aus der Reihe tanzen. Ich habe meinen damaligen Meister Go vor ihm gewarnt. Anscheinend hat Go ihn trotzdem unterschätzt.“
„Ist er ehrgeizig?“
„Genug, um gefährlich zu sein.“
„Besondere Fähigkeiten?“
„Er hat eine hohe Affinität zu Seelenspiegeln.“
Diesmal durchzog die Versammlung ein kollektiver Seufzer.
„Das sind die Schlimmsten. Er könnte uns allen großen Schaden zufügen. Wir müssen ihn unbedingt hierherholen und vernünftig schulen.“
„Aber dann bleibt sein Haus ohne Meister zurück!“
„Nein. Du wirst das Haus solange übernehmen.“
Na zuckte zusammen. Gerade jetzt aus der Hauptstadt versetzt zu werden, wo es hier richtig interessant wurde? „Ich bin doch selbst kaum länger Meister als Jo. Könnt ihr nicht einen Erfahreneren schicken?“
Nach kurzer Diskussion einigte sich die Runde. Ak, eine der nur vier Zauberinnen im ganzen Reich, würde die Verwaltung von Jos Haus übernehmen. Ak hatte Erfahrung im Wiederaufbau, sie war eine der wenigen Überlebenden sowohl der Zaubererkriege als auch der Aufstände gegen die Kristallkammer.
Ro rief zurück zur Tagesordnung. Da war immer noch der ungeklärte Zauber im Zusammenhang mit der Rettung des Prinzen Ioro. Mangels besserer Alternativen einigte man sich darauf, den Prinzen stärker im Auge zu behalten. Auch wenn ihnen selbst der Palast verschlossen blieb, hatten die Zauberer Mittel und Wege, ihre Augen und Ohren dort einzuschleusen.
Na hielt sich weiterhin bedeckt. Er hatte seine eigene Theorie zu der Sache. War es nicht Jo gewesen, der noch vor ihm von seiner Mitschülerin Thealina gelernt hatte, durch Geisteskraft einen Falken zu leiten? Und hatte nicht ein Falke Ioro gerettet? Es sah ganz danach aus, dass Jo hier seine Hand im Spiel hatte. Aber das musste er seinen Kollegen ja nicht gleich auf die Nase binden. Es hatte Vorteile, der Jüngste zu sein. Keiner der Älteren traute ihm Wissen und Fähigkeiten zu, die sie selbst nicht besaßen. Na war nicht umsonst ein Sohn des Hauses Kirasa-Poetoni. Adelige Karapakier sogen Intrigen und Strategien bereits mit der Muttermilch auf. Er würde dafür sorgen, dass er immer einen angemessenen Wissensvorsprung behielt. Nur so konnte er zu gegebener Zeit seine Position verbessern.
Abgesehen davon war er natürlich neugierig, was Jo eigentlich bezweckte.
*
Bei allen Windgeistern! Jo schleuderte das Buch wütend in die Ecke. Er hatte den alten Meister Go sehr unterschätzt. Von wegen, er konnte einfach alles Notwendige in Gos Büchern finden. Was immer Go in seine Bücher geschrieben hatte, Zauberer-Weisheiten waren es nicht. Statt dessen – Rezepte. Go hatte Kochbücher geschrieben. Ausgerechnet Kochbücher! Was bei den Drachenzahnbergen hatte Go bewogen, ausgerechnet Kochbücher zu verfassen? Nicht, dass er sie je gebraucht hätte, die Küche war seit jeher ausschließlich eine Domäne der Diener.
Und wenn doch mal auf irgend einem Pergamentfetzen ein Zauberspruch auftauchte, funktionierte er nicht. Nach wie vor blieb Jo nichts anderes übrig, als jeden Zauber mühsam über Versuch und Irrtum selbst auszutüfteln. Eine sehr zeit- und vor allem energieraubende Aktion. Kochbücher. Das konnte einfach nicht alles sein. Irgendwo musste Meister Go noch andere Aufzeichnungen verborgen haben. Und die restlichen Bücher in der Turmstube – nichts davon konnte er gebrauchen. Entweder es war Geschichte oder Viehzucht oder Gartenbau oder vollkommen unleserliches Gekrickel längst vergangener Zauberer-Generationen. Es war der pure Frust. Eine ganze Bibliothek mit nichts Brauchbarem darin.
***
Kanatas Hände umklammerten das hölzerne Gesims. Er könnte spüren, wie das feine Schnitzwerk unter seinen Fingern zerbröselte. Er verstärkte den Druck. Kleine Splitter bohrten sich in seine Handflächen. Verdammt! Wie sollte ein König regieren können, der Zauberer und Priester zugleich gegen sich hatte?
Hinter ihm räusperte sich der Hofmarschall. „Euer Majestät, wie ich bereits sagte, der Seher ist da. Natürlich will ich Euch nicht drängen, nur ... Er ist ein alter Mann, schwach und hinfällig. Wenn er noch lange warten muss, kann es sein, dass er heute nicht mehr in der Lage ist, die Geister für Euch zu befragen.“
Einen Moment lang schloss Kanata die Augen. Als er sich umdrehte, hatten sich seine Gesichtszüge wieder geglättet. „So ruft ihn.“
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