Die bisher skizzierten MoralsystemeMoral spielen in der Alltagspraxis, im Umgang mit den Mitmenschen, in den zwischenmenschlichen Beziehungen, eine große Rolle, ohne dass sich die meisten ausdrücklich darüber klar sind, wie weit ihre kommunikativen Verhaltensweisen von solchen MoralenMoral bestimmt, ja reglementiert sind. Erst wenn im Privatbereich persönliche (GewissenGewissens-) Konflikte Konflikt entstehen oder in der öffentlichen Diskussion Probleme erörtert werden, die sich aus einer Normen- resp. WertekollisionWert ergeben, wird sich der einzelne zum einen der Selbstverständlichkeit bewusst, mit der er bestimmten internalisierten moralischen Regeln fraglos folgt, zum andern aber auch seiner persönlichen Verantwortung, derer er durch die Befolgung von Vorschriften der geltenden MoralMoral keineswegs enthoben ist.
Es lassen sich drei Hauptklassen solcher NormenNorm- oder WertekollisionenWert, die zu einem GewissenGewissenskonfliktKonflikt führen können, unterscheiden:
Es kann erstens passieren, dass NormenNorm, die zu ein und demselben MoralsystemMoral gehören, miteinander kollidieren.
Dies ist z.B. der Fall, wenn sich die Regel, immer wahrhaftig zu sein, in einer bestimmten Situation mit der Regel, niemandem Leid zuzufügen, nicht in Einklang bringen lässt, sodass das Sagen der WahrheitWahrheit mit der Zufügung großen Leids verbunden ist, das Verschweigen der WahrheitWahrheit aber zu ständigem Lügen zwingt.
Ein anderer Fall liegt vor, wenn das Leben eines Menschen nur durch den Bruch eines Versprechens oder durch Verrat gerettet werden kann.
Es kann zweitens der Fall eintreten, dass NormenNorm, die zu verschiedenen MoralsystemenMoral gehören, miteinander kollidieren.
Für den Pazifisten ist z.B. die Forderung, keine Waffen zu tragen und sich aus Kriegshandlungen herauszuhalten, mit der Forderung des Staates, sein Vaterland notfalls mit Waffen zu verteidigen, unvereinbar.
Das katholische Verbot einer Schwangerschaftsverhütung durch »die Pille« kann mit einer ärztlichen oder sozialen Indikation zusammenstoßen, der gemäß eine Schwangerschaft schwerste leibliche und seelische Schäden zur Folge haben würde.
Es kann schließlich drittens eine bestimmte, allgemein anerkannte NormNorm oder WertvorstellungWert das Selbstverständnis eines einzelnen so tiefgreifend beeinträchtigen, dass ihre Befolgung seine freie Selbstverwirklichung, auf die er einen moralischen Anspruch hat, in unzulässiger Weise behindern würde. Hier entsteht der KonfliktKonflikt nicht durch die Unvereinbarkeit von allgemeinen NormenNorm oder NormensystemenNorm, sondern durch den Zusammenstoß einer allgemein anerkannten mit einer in bestimmter Weise ausgelegten Individualnorm.
Dies ist z.B. der Fall, wenn jemand homosexuell veranlagt ist und mit einem gleichgeschlechtlichen Partner zusammenlebt, was gegen die Institution der Ehe verstößt.
Das Gemeinsame der oben geschilderten KonfliktsituationenKonflikt liegt darin, dass sie nicht durch irgendeine öffentliche Autorität oder Instanz allgemein verbindlich für jeden Einzelfall a priori gelöst werden können, sondern von dem betroffenen Individuum selbstverantwortlich entschieden werden müssen. Zwar können öffentliche oder private Diskussionen dazu beitragen, in Pro- und Contra-Argumenten gute Gründe für die eine oder die andere Lösung zu formulieren und auf die möglichen Folgen der jeweiligen Entscheidung aufmerksam zu machen; außerdem können gesetzliche Regelungen den Entscheidungsraum einschränken, aber treffen muss die Entscheidung der einzelne, der sich in der KonfliktsituationKonflikt befindet, und er muss sie im Bewusstsein seiner moralischen Verantwortung treffen, d.h. nicht nach Gutdünken und ausschließlich persönlichem Wunsch und Willen, sondern unter Berücksichtigung dessen, was in der Gemeinschaft gilt, zu der er gehört. Er muss somit bereit sein, sich vor dieser Gemeinschaft bezüglich seiner Entscheidung zu rechtfertigen, mithin die Gründe offenzulegen, die ihn bewogen haben, so zu handeln, wie er gehandelt hat bzw. handeln möchte. Ganz gleich wie seine Entscheidung de facto ausfällt, sie wird in den exemplarisch geschilderten Fällen immer gegen die eine oder die andere NormNorm verstoßen und insofern mit einem gewissen Maß an moralischer SchuldSchuld verbunden sein. Doch ist die grundsätzliche Bereitschaft, eine solche Entscheidung zu rechtfertigen, vor anderen zu verantworten, ein Indiz dafür, dass die betreffende Person nicht unmoralisch ist, sondern dass es vielmehr in Ausnahmefällen und Extremsituationen rechtens sein kann, den Anspruch einer bestimmten moralischen NormNorm zugunsten einer höher geschätzten NormNorm nicht zu erfüllen.
Eine geltende MoralMoral bzw. eine moralische Regel kann aus Moralität in Frage gestellt oder negiert werden.
In den verschiedenen historisch entstandenen Moralsystemen kommt ein Normenpluralismus Norm zum Ausdruck, durch den die Alltagspraxis und damit zugleich das Freiheitsverständnis von Menschen bestimmt wird. Das spiegelt sich in einer Vielzahl von inhaltlich differierenden Geboten, Verboten, Handlungsanweisungen, Regeln, Vorschriften und dergleichen mehr. Es fragt sich nun, ob es sich bei der Mannigfaltigkeit dieser NormenNorm um eine heterogene Vielfalt handelt, oder ob sie sich nicht trotz aller inhaltlichen Differenz doch allesamt auf einen als Moralkriterium fungierenden formalen Grundsatz zurückführen lassen. Ein solcher Grundsatz, der auf die Bibel zurückgeht, ist z.B. als »Goldene Regel RegelGoldene « allgemein bekannt:
Was du nicht willst, das man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu;
oder positiv formuliert:
Behandle deine Mitmenschen so, wie du von ihnen behandelt werden willst. (Vgl. AT: Tobias 4, 16; NT: Matth. 7, 12; Luk. 6,31)
Diese Regel verlangt somit vor jeder konkreten Einzelentscheidung, dass man sich in die Lage des oder der von ihr Betroffenen versetzen soll, um zu prüfen, ob man die Entscheidung auch dann gutheißen würde, wenn ein anderer sie fällen würde und ich dadurch unmittelbar oder mittelbar betroffen wäre.
Die Goldene Regel RegelGoldene ist nicht selber eine moralische NormNorm, sondern soll als Maßstab von moralischen NormenNorm fungieren, d.h. sie schreibt nicht inhaltlich vor, was im Einzelnen getan werden soll; sie gebietet vielmehr rein formal, wie generell gehandelt werden muss, damit die Handlung als moralischHandeln/Handlungmoralische(s) anerkannt werden kann. Die HandlungHandeln/Handlungmoralische(s) gilt dann als moralisch, wenn sie nicht Folge eines bloß subjektiven, unmittelbaren WollensWollen (BedürfnissesBedürfnis oder Interesses) ist, sondern Ausdruck eines sich von seinem unmittelbaren Begehren distanzierenden und auf den WillenWille anderer Subjekte beziehenden, intersubjektiv vermittelten WillensWille.
Allerdings gibt es ein Problem, das auch die Goldene RegelRegelGoldene nicht zu lösen vermag, nämlich das Problem des Fanatikers, der dem Grundsatz huldigt: fiat iustitia, pereat mundus – Gerechtigkeit muss sein, auch wenn die Welt daran zugrunde geht. Der Fanatiker wäre also grundsätzlich bereit, Gewalt und Tod zu erleiden, wenn er selber in der Rolle des Betroffenen wäre. Die Goldene RegelRegelGoldene versagt in diesem Fall; sie funktioniert nur, solange es um ›normales‹ moralisches Verhalten geht. Sobald jemand die katastrophalen FolgenFolgen einer unmenschlichen Tat für sich selbst akzeptiert und zu tragen bereit ist, endet nicht nur die Plausibilität der Goldenen RegelRegelGoldene, sondern die Wirksamkeit jedes noch so vernünftigen Arguments, da moralische Eiferer und Fanatiker sich auf keinen echten Dialog einlassen.
Lenkt die Goldene RegelRegelGoldene den Blick auf die Qualität des Willens, durch den eine Tat zu einer moralischen HandlungHandeln/Handlung wird, so bezieht sich eine andere Formulierung des Maßstabs der Moral, der in der Alltagspraxis ebenfalls häufig Verwendung findet, auf die möglichen FolgenFolgen einer HandlungHandeln/Handlung: Nach dem Prinzip der Verallgemeinerung Prinzip der Verallgemeinerung (umgangssprachlich in dem Argument enthalten: »Stell’ dir vor, was passieren würde, wenn alle so handelten wie du.«) gilt eine HandlungHandeln/Handlungmoralische(s) dann als unmoralisch, wenn ihre generelle Ausführung unzumutbare Konsequenzen nach sich zöge.
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