Nehmen wir ein Beispiel. Stellen Sie sich ein interdisziplinäres Gespräch zwischen Vertretern der Naturwissenschaften, der Medizin, der Jurisprudenz, der Psychologie, Theologie, Soziologie usf. vor. Es soll geklärt werden, ob ein bestimmtes Experiment, das bei Tieren die gewünschten Ergebnisse gebracht hat, auch an Menschen durchgeführt werden darf. Die Gefahren sind groß, aber der zu erwartende Nutzen wird noch höher veranschlagt. Ohne die Gründe, die in den folgenden Argumenten stecken, im Einzelnen zu gewichten, soll das Augenmerk ausschließlich auf die jeweilige Sprachebene gerichtet werden, zu der sie gehören.
A sagt also: Unser Rechtsstaat verbietet Humanexperimente, sofern sie das Leben der Versuchsperson gefährden. B unterstützt dies noch mit dem Hinweis, dass auch die Kirche lebensgefährliche Eingriffe ablehne – sei der experimentelle Zweck auch noch so gut. C fügt hinzu, dass man in gewissen Staaten Schwerverbrecher als Versuchspersonen heranziehe. Alle drei Personen – A, B und C – haben deskriptive Aussagen erster Ordnung gemacht, also metamoralische Aussagen. Selbst wenn ersichtlich ist, dass alle drei Gesprächspartner mit der von ihnen vorgetragenen staatlichen, kirchlichen oder gesetzlich sanktionierten RegelRegel einverstanden sind, haben sie mit ihrem Beitrag lediglich beschrieben, was der Fall ist, d.h. welche RegelRegel faktisch befolgt wird. Nun äußert sich D und sagt: Ein Wissenschaftler, sei er auch noch so qualifiziert, habe nicht das Recht, über fremdes Leben zu verfügen. E kontert, indem er erwidert, er fühle sich als Arzt verpflichtet, seinen Patienten zu helfen, auch wenn es einen gewissen Preis koste. D und E fällen somit normative Urteile erster Ordnung, also moralische Urteile. Nun tritt F auf und erklärt: Menschliches Leben ist schlechthin unantastbar. G schränkt ein: Jeder hat jederzeit das Recht, im Rahmen seiner autonomen Selbstverfügung darüber zu entscheiden, ob er den Tod einem nicht mehr lebenswerten Leben vorzieht. Mit diesen grundsätzlichen Aussagen, die jederzeit kategorisch formuliert werden können, befinden sich F und G auf der normativen Ebene zweiter Ordnung, auf der ethischen Ebene also, auf der universalisierbare bzw. für universalisierbar gehaltene Grundsätze problematisiert werden. Nun lassen wir abschließend noch H und I zu Wort kommen. H sieht sich genötigt, den Begriff AutonomieAutonomie zu klären, und schlägt vor, AutonomieAutonomie mit KANTKant, I. als ein selbst gegebenes Gesetz der FreiheitFreiheit um der FreiheitFreiheit willen aufzufassen. I wendet dagegen ein, dass AutonomieAutonomie eigentlich ein politischer Begriff sei und daher völlig ungeeignet sei, ein Tun- und Lassen-Können im Sinne von WillkürWillkür zu umschreiben. Überhaupt wäre es viel vernünftiger, anstatt der Philosophen die Psychologen zu befragen, was genau unter FreiheitFreiheit zu verstehen ist, und ob dieser Begriff überhaupt operationalisierbar sei. H und I reden auf der deskriptiven Ebene zweiter Ordnung, der metaethischen EbeneMetaethik.
Man könnte dieses fingierte Gespräch ins Unendliche fortsetzen. Die Argumente haben alle etwas miteinander zu tun, und es wird zweifellos schwierig sein, zu einem KonsensKonsens zu gelangen. Aber es sollte immerhin deutlich geworden sein, dass aus deskriptiven Aussagen (gleich ob erster oder zweiter Ordnung) ohne zureichende Begründung keine normativen Aussagen gewonnen werden können. Die Tatsache, dass die Kirche lebensgefährliche Humanexperimente verbietet, ist noch keine zureichende Begründung dafür, dass solche Verfahren prinzipiell verboten sind. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass in bestimmten Staaten Schwerverbrecher als Versuchskaninchen benutzt werden, schon ein Freibrief dafür ist, dass man dies überall darf. Aber auch auf den normativen Ebenen ist die behauptete Rechtmäßigkeit eines Geltungsanspruchs nicht ohne zureichende Begründung zuzugestehen. Daraus folgt, dass auf allen vier Ebenen die Aussagen grundsätzlich problematisierbar sein müssen und jeder Ebenenwechsel deutlich kenntlich gemacht werden muss, damit der am Ende erzielte KonsensKonsens – wenn er denn zustande kommt – für jeden Gesprächsteilnehmer dasselbe (deskriptiv) beinhaltet und dieselbe (normative) Verbindlichkeit hat.
2.4 Die AutonomieAutonomie der Ethik
Die Ethik steht als praktische Disziplin der Philosophie in einem engen Verhältnis zu anderen praktischen und theoretischen Disziplinen, ist aber gleichwohl eine eigenständige Wissenschaft, insofern nur sie das Verhältnis von Moral und Moralität begrifflich und kategorial zureichend bedenkt.
Die Ethik teilt mit Politik und Rechtsphilosophie den Gegenstand: menschliche Praxis. Insofern sie politische und Rechtsansprüche hinsichtlich ihrer VerbindlichkeitVerbindlichkeit für das menschliche Handeln am Unbedingtheitsanspruch des Moralitätsprinzips misst, ist die Ethik die Grundlagenwissenschaft aller übrigen Disziplinen der praktischen Philosophie.
Mit der Anthropologie teilt die Ethik das Interesse am Menschen, mit der Metaphysik die Problematik der Stellung des Menschen im Weltall und mit der Logik schließlich die Frage nach den formalen Strukturen menschlichen Wissens (insbesondere moralischen Wissens) und wissenschaftlicher Argumentation. Gegenüber diesen Disziplinen der theoretischen Philosophie bewahrt die Ethik dadurch ihre Selbständigkeit, dass sie die bloß theoretischen Informationen von Anthropologie, Metaphysik und Logik unter dem Gesichtspunkt des Moralitätsprinzips hinsichtlich ihrer Bedeutung für das menschliche Handeln reflektiert.
Die Begründung und Rechtfertigung aller Moral aus einem Unbedingten ist die bleibende Aufgabe der EthikEthikAufgabe der, die sich in der Erfüllung dieser Aufgabe als eine autonomeAutonomie Wissenschaft erweist.
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