Das mag zunächst frivol klingen, ist aber durchaus nicht absurd, denn die Ethik als Theorie der moralischen PraxisPraxis ist nicht selber schon die PraxisPraxis der MoralMoral, und man kann sich sehr wohl eine richtige Theorie der PraxisPraxis vorstellen, die unabhängig davon richtig ist, ob derjenige, der diese Theorie entwickelt hat, sie auch praktiziert oder nicht. AndersAnders, G. gesagt: Über die Richtigkeit der Theorie entscheidet nicht die Tatsache, dass ihr Urheber sie praktiziert. Aber wenn die Theorie richtig ist, kann man sagen, dass es praktisch inkonsequent ist, wenn sie für die PraxisPraxis ihres Urhebers folgenlos bleibt. Das Bild des Wegweisers ist somit insofern zutreffend, als man den Wegweiser und den zu gehenden Weg voneinander trennen muss. Man kann also nicht sagen, im Idealfall müsste der Wegweiser tatsächlich den von ihm gewiesenen Weg gehen, d.h. Ethik und MoralMoral müssten zusammenfallen. Der Wegweiser steht für eine richtige Theorie der Ethik, und jeder, der sie verstanden hat, hat damit zugleich eine bestimmte Form von PraxisPraxis als verbindlich anerkannt, die er handelnd verwirklichen soll.
1.2 Die Rolle der MoralMoral in der Alltagserfahrung
Die MoralMoral spielt im alltäglichen Erfahrungsbereich eine große Rolle: In allen menschlichen Verhaltensweisen und Sprachgewohnheiten stellt sich mehr oder weniger ausdrücklich ein bestimmtes EngagementEngagement dar, das wiederum auf bestimmten Wertvorstellungen basiert.
Es macht gerade die HumanitätHumanität des Menschen als Mitgliedes einer Sozietät aus, dass er sich nicht schlechthin gleichgültig gegen alles das verhält, was seine Mitmenschen sagen und tun, sondern Partei ergreift, indem er durch die Äußerung von Lob und Tadel, von Billigung und Missbilligung, von Zustimmung und Ablehnung erkennen lässt, was er für gut oder böse, richtig oder falsch hält. Diese grundsätzliche Möglichkeit, nicht alles, was geschieht, kritiklos hinzunehmen, sondern – sei es aus eigenem Interesse, sei es aus innerer Überzeugung oder sei es um eines allgemein für erstrebenswert gehaltenen Ziels willen – seine persönliche Stellungnahme in die Gemeinschaft der miteinander Redenden und Handelnden einzubringen, ist ein Indiz für die FreiheitFreiheit als Fundament aller menschlichen Praxis.
Doch birgt diese Möglichkeit die Gefahr der Verkehrung von FreiheitFreiheit in Unfreiheit. Nirgends sind die Meinungsverschiedenheiten und die Widersprüche zwischen miteinander unverträglichen Standpunkten größer als in der Beurteilung von Handlungen bezüglich ihrer Richtigkeit und Moralität. Was der eine für gut hält, lehnt der andere rigoros ab und ist oft nicht einmal dazu bereit, seinen Standpunkt zu problematisieren, d.h. der Kritik auszusetzen und Gegenargumenten zu begegnen. Solche dogmatisch als unangreifbar behaupteten, zu bloßen Vorurteilen erstarrten Haltungen sind Formen eines »Moralisten-« oder »Pharisäertums«, das FreiheitFreiheit nicht als FreiheitFreiheit aller begreift, sondern als FreiheitFreiheit von Auserwählten missversteht. Die Folgen eines solchen unkritisch verallgemeinerten Ethos sind bekannt: religiöse Verfolgung, Diffamierung von Minderheiten, Rassen- und Geschlechterdiskriminierung, Ächtung politisch oder ideologisch Andersdenkender, Verfemung moralisch Andershandelnder usf. Hier werden die Menschen in Klassen, in Über- und Untermenschen eingeteilt, und zwar nach Maßgabe desjenigen, der sich einen absoluten Standpunkt angemaßt hat und nicht mehr bereit ist, diesen zu problematisieren.
FreiheitFreiheit als Fundament menschlicher Praxis ist keine regellose Willkürfreiheit, der gemäß jeder tun und lassen kann, was ihm beliebt. Der Mensch ist auch nicht wie das Tier schon von Natur aus durch Instinkt und Triebe so optimal eingerichtet, dass FreiheitFreiheit überflüssig würde. Vielmehr besteht die menschliche FreiheitFreiheit als moralische FreiheitFreiheit darin, sich selber RegelnRegel im Hinblick auf das, was man als von Bedürfnissen und Trieben abhängiges, durch diese aber nicht schlechthin determiniertes Sinnenwesen ist, zu geben und diese RegelnRegel aus FreiheitFreiheit und zur Erhaltung der FreiheitFreiheit zu befolgen. Erst durch die Selbst bindung an solche RegelnRegel der FreiheitFreiheit entsteht Ver bind lichkeitVerbindlichkeit und damit eine MoralMoral.
Regellose FreiheitFreiheit ist keine menschliche, sondern unmenschliche FreiheitFreiheit. Das andere Extrem, eine total von RegelnRegel bestimmte, in Zwangsmechanismen erstarrte Freiheit – z.B. in totalitären Staaten oder Gesellschaftsformen, wo kein Spielraum mehr bleibt für die Freiheit des einzelnen – ist ebenso unmenschlich. Moralische FreiheitFreiheitmoralische dagegen setzt sich selbst um der Freiheit aller willen RegelnRegel, an die sie sich bindet, so wie man beim SpielSpiel RegelnRegel gehorcht, die das Spielen nicht aufheben, sondern als SpielSpiel gerade ermöglichen sollen.
Was genau beinhaltet nun das Wort MoralMoral?
Eine Moral ist der Inbegriff jener NormenNorm und WerteWert, die durch gemeinsame AnerkennungAnerkennung als verbindlich gesetzt worden sind und in der Form von
Geboten (Du sollst …; es ist deine Pflicht …) oder
Verboten (Du sollst nicht …)
an die Gemeinschaft der Handelnden appellieren. Jede MoralMoral ist somit als geschichtlich entstandener und geschichtlich sich mit dem Freiheitsverständnis von Menschen verändernder Regelkanon immer eine GruppenmoralGruppenmoral, deren Geltung nicht ohne weiteres über die Mitglieder der Gruppe hinaus ausgedehnt werden kann.
Der Versuch, eine umfassende Menschheitsmoral aus der Vielzahl vorhandener Moralen herauszudestillieren, würde letztlich weniger daran scheitern, dass über universale BasisnormenBasisnorm bzw. Grundwerte keine Einigung zustande käme: Es lässt sich wohl bis zu einem gewissen Grad einsichtig machen, dass keine MoralMoral ohne die Ideen FreiheitFreiheit, GleichheitGleichheit, MenschenwürdeMenschenwürde, GerechtigkeitGerechtigkeit u.a. auskommen kann. Die eigentliche Schwierigkeit besteht vielmehr darin, die RegelnRegel einer solchen UniversalmoralMoral im Kontext unterschiedlicher, geschichtlich gewachsener Lebensformen und Kulturkreise »anzuwenden«, d.h. mit den jeweiligen Lebensbedingungen (Klima, geographische Lage, religiöse Überzeugungen, wirtschaftlicher Status, Stand der Zivilisation etc.) zu vermitteln. Auch Tradition Tradition und Konvention Konvention bestimmen den durch den jeweiligen MoralkodexMoralkodex repräsentierten, kulturell geprägten Sinnhorizont einer Sozietät wesentlich mit und führen zu unterschiedlichen, ja manchmal sogar entgegengesetzten Ausprägungen einer und derselben BasisnormBasisnorm.
Die inzwischen vorliegenden Berichte über die moralischen Verhaltensregeln und ihren Zusammenhang in bestimmten ethnischen Gruppen sind für die Ethik deshalb bedeutsam, weil wir aus solchen Untersuchungen lernen, dass bei gleichen zugrunde liegenden moralischen Grundsätzen doch vollkommen verschiedene ›moralische Landschaften‹ entstehen können, je nach den aktuellen geographischen, ökonomischen und historischen Bedingungen, unter denen die Angehörigen solcher Gruppen leben. (G. PATZIGPatzig, G.: Relativismus und Objektivität moralischer NormenNorm, in: Ethik ohne Metaphysik, 79)
Was genau heißt es, dass bei gleichen zugrundeliegenden moralischen Grundsätzen dennoch ganz verschiedene »moralische Landschaften« entstehen können? Ein extremes Beispiel mag dies veranschaulichen:
Bei manchen ›primitiven‹ Gruppen, z.B. bei den Eskimos, soll es Brauch gewesen sein, alte und schwache Leute zu töten. Diese Regel steht in krassem Widerspruch zu unserem Verständnis von Menschenwürde und wird nur nachvollziehbar vor dem Hintergrund extremer Lebensverhältnisse, die durch große Unwirtlichkeit des Lebensraums und knappe Lebensmittel gekennzeichnet sind. Nur so ist es verstehbar, dass die moralische NormNorm, seinen Eltern Gutes zu tun und ihnen Leid zu ersparen, dadurch erfüllt wird, dass man ihnen einen qualvollen Tod erspart, indem man sie auf schmerzlose Weise tötet und somit die Überlebenschance der Jungen vergrößert.
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