Moderne Gesellschaften sind gekennzeichnet durch eine Pluralität von weltanschaulichen Standpunkten, privaten Überzeugungen und religiösen Bekenntnissen; hinzu kommt eine rasch fortschreitende soziokulturelle Entwicklung und damit verbunden eine fortgesetzte Veränderung kultureller, ökonomischer, politischer und gesellschaftlicher Zielvorstellungen. Bei dieser zum Teil in sich heterogenen Mannigfaltigkeit ist ein KonsensKonsens über Angelegenheiten der MoralMoral keineswegs mehr selbstverständlich, ja bleibt aufgrund gegensätzlicher InteressenInteresse und BedürfnisseBedürfnis oft sogar aus. Insofern ist eine Verständigung über die Grundsätze der MoralMoral, deren AnerkennungAnerkennung jedermann rational einsichtig gemacht und daher zugemutet werden kann, ebenso unerlässlich wie eine kritische Hinterfragung von faktisch erhobenen moralischen Geltungsansprüchen hinsichtlich ihrer Legitimität.
Eine solche Verständigung über Geltungsansprüche setzt die Einsicht voraus, dass der KonfliktKonflikt zwischen konkurrierenden Forderungen nicht mit GewaltGewalt ausgetragen werden soll, sondern auf der Basis von Vernunft. Keiner soll seine Wünsche uneingeschränkt durchsetzen, was zum KriegKrieg, H. aller gegen alle führt und zu einer Favorisierung der Prinzipien Macht, GewaltGewalt, Tücke, List. Es gilt vielmehr, das moralische Prinzip der AnerkennungAnerkennung von Rechten der anderen, die durch mein Handeln betroffen sind, zu befolgen.
Die doppelte Aufgabe – Analyse und Kritik von Sollensforderungen, die Anspruch auf Moralität erheben – muss jeder einzelne nach Maßgabe seiner Selbstbestimmung in seiner Praxis ständig erneut bewältigen; sie ist gewissermaßen das moralische Rückgrat seiner Geschichte, seiner Biographie. Von jedem einzelnen als Mitglied einer mündigen, aufgeklärten Gemeinschaft wird ein gewisses Maß an moralischer KompetenzKompetenz, moralische und an Verantwortungsbewusstsein erwartet, darüber hinaus die Fähigkeit, diese beiden grundlegenden Aspekte moralischen EngagementsEngagement im Konfliktfall anderen gegenüber kommunikativ bzw. argumentativ zu vermitteln, d.h. sich zu rechtfertigen und sein moralisches EngagementEngagement als unverzichtbare Basis eines kritischen, emanzipativen, für Freiheit und Humanität eintretenden Selbstverständnisses sichtbar zu machen. Dabei handelt es sich nicht um etwas Außergewöhnliches, sondern um ganz alltägliche, selbstverständliche Dinge, so wenn wir für unser Tun zur Rechenschaft gezogen werden, für etwas ein- oder geradestehen müssen, anderen Vorwürfe wegen ihres Verhaltens machen, sie der Verantwortungslosigkeit bezichtigen usf. Die methodisch-systematische Vermittlung der Einsicht in den Sinn moralischen HandelnsHandeln/Handlungmoralische(s) geschieht durch die Ethik. Die Ethik ist jedoch kein Ersatz für moralisches Handeln, sondern erschließt die kognitive Struktur solchen Handelns. Das heißt, indem sie einerseits durch Beschreibung und Analyse moralischer Verhaltensmuster und Grundeinstellungen, andererseits durch methodische Begründung der Gesolltheit moralischer Praxis kritische Maßstäbe zur Beurteilung von Handlungen überhaupt liefert, löst die Ethik den komplexen Bereich moralischen HandelnsHandeln/Handlungmoralische(s) begrifflich auf und macht dessen Strukturen transparent.
Damit werden demjenigen, der sich aus einem Interesse am HandelnHandeln/Handlung und um des Handelns willen mit Ethik beschäftigt, Argumentationsstrategien an die Hand gegeben, vermittels deren er in der Lage ist, moralische Probleme und Konflikte menschlichen Handelns als solche klar zu erfassen, mögliche Lösungsvorschläge zu entwickeln und auf ihre moralischen Konsequenzen hin zu durchdenken sowie sich nach reiflicher Überlegung selbständig »mit guten Gründen« für eine bestimmte Lösung zu entscheiden.
Letzteres ist das eigentliche Ziel der EthikEthikZiele der: die gut begründete moralische Entscheidung als das einsichtig zu machen, was jeder selbst zu erbringen hat und sich von niemandem abnehmen lassen darf – weder von irgendwelchen Autoritäten noch von angeblich kompetenteren Personen (Eltern, Lehrern, Klerikern u.a.). In Sachen Moral ist niemand von Natur aus kompetenter als andere, sondern allenfalls graduell aufgeklärter und daher besser in der Lage, seinen Standort zu finden und kritisch zu bestimmen. Bei diesem Aufklärungsprozess hat die Ethik eine sehr wichtige Funktion: Sie soll nicht bevormunden, vielmehr Wege weisen, wie der einzelne unter anderen Individuen und in Gemeinschaft mit ihnen er selbst werden bzw. sein kann.
1 Die Aufgabe der EthikEthikAufgabe der
Die Ethik als eine Disziplin der Philosophie versteht sich als Wissenschaft vom moralischen Handeln Handeln/Handlungmoralische(s). Sie untersucht die menschliche Praxis im Hinblick auf die Bedingungen ihrer MoralitätMoralität/Sittlichkeit und versucht, den Begriff der MoralitätMoralität/Sittlichkeit als sinnvoll auszuweisen. Dabei ist mit Moralität vorerst jene Qualität gemeint, die es erlaubt, eine Handlung als eine moralische, als eine sittlich gute Handlung zu bezeichnen. Heißt dies nun aber, dass Ethik etwas so Elitäres, der Alltagspraxis Enthobenes ist, dass niemand von sich aus, quasi naturwüchsig darauf käme, Ethik zu betreiben? Keineswegs. Ethische Überlegungen sind nicht bloß dem Moralphilosophen oder Ethiker vorbehalten. Vielmehr hat sich jeder in seinem Leben gelegentlich schon mehr oder weniger ausdrücklich ethische Gedanken gemacht, in der Regel jedoch, ohne sie systematisch als eine zusammenhängende Theorie zu entfalten, weil diese Gedanken meist im Zusammenhang mit einer gegebenen Situation, einem bestimmten KonfliktKonflikt sich einstellen, mit dessen Lösung auch das darin steckende ethische Problem erledigt ist. Manchmal ergeben sich Diskussionen allgemeiner Art: Dürfen Politiker sich in Krisensituationen über Moral und Recht hinwegsetzen? Wem nützt es, dass es moralische Normen gibt, wenn keiner sie befolgt? Aber auch in solchen Grundsatzdiskussionen bleiben ethische Fragen oft im Ansatz stecken.
Soviel ist fürs erste deutlich: Ohne moralische Fragen, KonflikteKonflikt, Überzeugungen etc. keine Ethik. Aber wie kommt man zur Moral?
Sobald ein KindKind anfängt, sich seiner Umwelt zu vergewissern, indem es nicht nur rezeptiv wahrnimmt, was um es herum geschieht, sondern zugleich seiner Umgebung seinen Willen aufzuzwingen versucht, macht es die Erfahrung, dass es nicht alles, was es will, auch ungehindert erreicht. Es lernt, dass es Ziele gibt, die unerreichbar sind (z.B. Siebenmeilenstiefel zu haben) oder die zu erreichen nicht wünschenswert ist, weil sie entweder schlimme Folgen haben (z.B. die heiße Kochplatte anzufassen) oder von den Erwachsenen unter Androhung von Strafe verboten werden (z.B. die kleineren Geschwister zu verprügeln). Andere Ziele wiederum (z.B. der Mutter zu helfen) werden durch Lob und Belohnungen ausgezeichnet.
Mit der Zeit lernt das KindKind, zwischen gebotenen (du sollst …), erlaubten (du darfst …) und verbotenen (du sollst nicht …; du darfst nicht …) Zielen zu unterscheiden und diesen Unterschied nicht nur in Bezug auf das, was es selbst unmittelbar will, zu berücksichtigen, sondern auch in seine Beurteilung der Handlungen anderer einzubringen. Es lernt mithin, nicht nur RegelnRegel zu befolgen und nach RegelnRegel zu handeln, sondern auch Handlungen (seine eigenen wie die anderer Menschen) nach RegelnRegel zu beurteilen.
Dieses zentralen Begriffs der RegelRegel bedient sich auch der Schweizer Entwicklungspsychologe Jean PIAGETPiaget, J., um ›Das moralische Urteil beim Kinde‹ genetisch aufzuklären.
Jede Moral ist ein System von Regeln, und das Wesen jeder Sittlichkeit besteht in der Achtung, welche das Individuum für diese Regeln empfindet. …
Das KindKind empfängt die moralischen Regeln, die es zu beachten lernt, zum größten Teil von den Erwachsenen, d.h. in fertiger Form. (S. 7)
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