Man könnte dieses Zitat zunächst so verstehen, als habe sich die von PIAGETPiaget, J. sogenannte heteronome Phase des Kindes in die Erwachsenenwelt hinein verlängert. Der gravierende Unterschied besteht jedoch darin, dass die Unmündigkeit des Kindes eine natürliche und keine selbstverschuldete ist. Der Erwachsene dagegen, der aus Faulheit, Feigheit oder Bequemlichkeit an seiner Unmündigkeit festhält, ist selber schuld daran, dass er sich seiner FreiheitFreiheitdes Handelns nicht bedient. Es ist ihm lästig, selbst zu handeln, und so lässt er andere für sich handeln. Es ist jedoch unmoralisch, sich bevormunden zu lassen und damit seine eigene Unfreiheit zu wollen. Genau darüber soll der Unmündige aufgeklärt werfen, dass er zur FreiheitFreiheitdes Willens aufgerufen ist und es an ihm selber liegt, wie frei er ist; und dass es zur FreiheitFreiheit des Mutes, der Risikobereitschaft, der Entschlusskraft bedarf.
Erst wenn ein Mensch sich nicht mehr dogmatisch vorschreiben lässt, was als gut zu gelten hat, sondern nach reiflicher Überlegung, d.h. in kritischer Distanz sowohl zu seinen eigenen Interessen als auch zu den Urteilen anderer, selbst bestimmt, welche Ziele für ihn, für eine Gruppe von Menschen oder auch für alle Menschen insgesamt gute, d.h. erstrebenswerte Ziele sind, hat er die Dimension des Moralischen erreicht.
Damit haben wir über den Gegenstand der EthikEthik, das moralische HandelnHandeln/Handlungmoralische(s), bereits einiges in Erfahrung gebracht.
Wir fällen ja tagtäglich fortwährend moralische Urteile, und dies so selbstverständlich, dass es uns kaum noch auffällt. Ob wir z.B.
uns selber anklagen, schlampig gearbeitet zu haben,
beim Einkaufen jemandem, der sich an der Kasse vordrängelt, Rücksichtslosigkeit vorwerfen,
über die Reklame im Fernsehen schimpfen und dabei von Verdummungseffekten reden,
uns über politische Ereignisse entrüsten oder
dem Nachbarn für seine angebotene Hilfe danken,
uns über ein besonders gut gelungenes Werk freuen,
einen kritischen Kommentar in der Tageszeitung mit Genugtuung zur Kenntnis nehmen,
so drückt sich in allen diesen ablehnenden bzw. zustimmenden Äußerungen ein Werturteil aus über das, was wir für gut halten.
Wer es nun nicht dabei belässt, einfach moralisch zu urteilen, sondern sich dafür interessiert, was das MoralischeMoral eigentlich ist, und ob es überhaupt einen Sinn hat, moralisch zu handeln, wie man solches Handeln begründen und rechtfertigen kann – wer solche Fragen stellt, fängt an, EthikEthik zu betreiben.
Die EthikEthik erörtert alle mit dem Moralischen zusammenhängenden Probleme auf einer allgemeineren, grundsätzlicheren und insofern abstrakteren Ebene, indem sie rein formal die Bedingungen rekonstruiert, die erfüllt sein müssen, damit eine Handlung, ganz gleich welchen Inhalt sie im Einzelnen haben mag, zu Recht als eine moralische HandlungHandeln/Handlungmoralische(s) bezeichnet werden kann. Die EthikEthik setzt somit nicht fest, welche konkreten Einzelziele moralisch gute, für jedermann erstrebenswerte Ziele sind; vielmehr bestimmt sie die Kriterien, denen gemäß allererst verbindlich festgesetzt werden kann, welches Ziel als gutes Ziel anzuerkennen ist. Die EthikEthik sagt nicht, was das Gute in concreto ist, sondern wie man dazu kommt, etwas als gut zu beurteilen. Diese die Aufgabe der EthikEthikAufgabe der betreffende These wird noch weiter präzisiert werden. Soviel kann jedoch schon festgehalten werden: Die Ethik ist nicht selber eine MoralMoral, sondern redet über MoralMoral.
Moralische Urteile und Aussagen über moralische Urteile sind zweierlei Dinge, die verschiedenen Sprach- und Objektebenen zugehören – so wie es auch etwas anderes ist, ob ich etwas erkenne und diese Erkenntnis formuliere oder ob ich über mein Erkennen überhaupt rede. Im einen Fall gilt meine Rede dem Etwas meiner Erkenntnis, im anderen Fall der Art und Weise, wie ich überhaupt etwas erkenne, d.h. hier liegt der Schwerpunkt nicht mehr auf dem einzelnen Etwas, sondern auf dem Wie. Die EthikEthik fällt entsprechend nicht moralische Urteile über einzelne HandlungenHandeln/Handlung, sondern analysiert auf einer Metaebene die Besonderheiten moralischer Urteile über HandlungenHandeln/Handlung.
1.1 Herkunft und Bedeutung des Wortes »EthikEthik«
ARISTOTELESAristoteles war der Erste, der die EthikEthik als eine eigenständige philosophische Disziplin behandelt und von den Disziplinen der theoretischen Philosophie (LogikLogik, PhysikPhysik, MathematikMathematik, MetaphysikMetaphysik) unterschieden hat. Die praktische Philosophie untergliederte er in EthikEthik, ÖkonomikÖkonomik und PolitikPolitik. Während es die theoretische Philosophie mit dem veränderlichen und unveränderlichen Seienden zu tun hat, geht es in der praktischen Philosophie um menschliche HandlungenHandeln/Handlung und ihre Produkte.
Doch schon nahezu alle Dialoge PLATONPlatons enthalten ethische Überlegungen – insbesondere gilt dies für die zwischen SOKRATESSokrates und den Sophisten ausgetragene Auseinandersetzung über das Ziel der ErziehungErziehung:
ErziehungErziehung wurde von den Sophisten (insbesondere von PROTAGORASProtagoras und GORGIASGorgias) als Einübung in die von den Vätern überkommenen SittenSitte und Satzungen, deren Geltung fraglos und unbestritten anerkannt war, verstanden. SOKRATESSokrates dagegen sah Erziehung als einen an der Idee des GutenGuteIdee des orientierten Lernprozess an, dessen Ziel der Erwerb von Mündigkeit im Sinne kritischer Urteilsfähigkeit war.
Während ErziehungErziehung also für SOKRATESSokrates ein ethisch begründeter Lernprozess ist, betonen die Sophisten den Wert der Rhetorik als Mittel zur Gewinnung und Aufrechterhaltung von politischer MachtMacht. Entsprechend verstanden sie ErziehungErziehung primär als Anleitung zu Rhetorik.
PLATONPlaton hat also zweifellos Untersuchungen zum Ethischen durchgeführt, jedoch sind derartige Überlegungen von ihm nicht systematisch zu einer EthikEthik zusammengefasst worden. Vielmehr durchziehen sie die einzelnen Dialoge in unterschiedlicher Gewichtung und sind von PLATONs metaphysischem Denkansatz nicht abtrennbar. Die menschliche PraxisPraxis wird von PLATON immer im Zusammenhang mit der Ideenlehre und damit verbunden der Frage nach den unveränderlichen, ewigen Prinzipien des SeiendenSein insgesamt erörtert.
Ausgehend von sophistischen und sokratisch-platonischen Thesen über die menschliche PraxisPraxis und das GuteGute, das hat dann ARISTOTELESAristoteles die praktische Philosophie von der theoretischen abgegrenzt und die EthikEthik als eine eigenständige Disziplin begründet. Dies dokumentieren verschiedene Werke, vor allem seine Vorlesungen über das Thema EthikEthik: die ›Eudemische Ethik‹ und die sog. ›Große Ethik‹. Am berühmtesten aber ist seine ›Nikomachische Ethik‹ geworden, die ihren Titel vermutlich vom Namen des Sohnes Nikomachos her erhalten hat. Die Nikomachische EthikEthik enthält eine umfassende Theorie des Handelns, die sowohl eine Glücks- als auch eine TugendlehreTugend ist, und erhebt den Anspruch, den Schüler der EthikEthik so über sein Tun aufzuklären, dass er lernt, das GuteGute, das immer besser zu tun und sich dadurch immer mehr als ein guter Mensch zu erweisen.
Der seit ARISTOTELESAristoteles verwendete Disziplintitel Ethik Ethik leitet sich ursprünglich von dem griechischen Wort ethos Ethos her, das in zwei Varianten vorkommt, nämlich einmal als ἔθοςEthos – Gewohnheit, SitteSitte, Brauch: Wer durch ErziehungErziehung daran gewöhnt worden ist, sein Handeln an dem, was SitteSitte ist, was im antiken Stadtstaat, in der Polis Geltung hat und sich daher ziemt, auszurichten, der handelt »ethisch«, insofern er die Normen des allgemein anerkannten ›MoralkodexMoral‹ befolgt. Im engeren und eigentlichen Sinn ethisch handelt jedoch derjenige, der überlieferten Handlungsregeln und Wertmaßstäben nicht fraglos folgt, sondern es sich zur Gewohnheit macht, aus Einsicht und Überlegung das jeweils erforderliche GuteGute, das zu tun: Das ἔθοςEthos wird dann zum ἦθοςEthos im Sinne von Charakter; es verfestigt sich zur Grundhaltung der Tugend.
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