Hier wird also der moralische Grundsatz: ›Du sollst deinen alten Eltern Gutes tun‹ durchaus anerkannt, allerdings auf eine Weise, die uns als das genaue Gegenteil einer moralischen Praxis erscheint.
Wenn man jedoch bedenkt, wie lieblos bei uns alte Menschen oft ohne Not in Alten- oder Seniorenheime abgeschoben werden, so kann man sich mit Recht fragen, ob diese Form der »Aussetzung« in der Tat sehr viel menschenwürdiger ist als die Praxis sogenannter »primitiver« Stämme.
Wohlgemerkt: Die Tötung alter Menschen geschah bei den Eskimos nicht gegen den Willen der Alten, sondern mit ihrem Einverständnis. Sie waren ja mit dieser RegelRegel bereits aufgewachsen und wußten um ihre Bedeutung. Ihnen wurde also keineswegs Zwang oder GewaltGewalt im eigentlichen Sinn angetan.
Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist die, wie solche unterschiedlichen Praktiken ethisch zu beurteilen sind. Hier ist es sicher nicht mit ToleranzToleranz getan, wie der Ethnologe Melville J. HERSKOVITSHerskovits, J. meint, der folgende drei Thesen aufstellt:
1 Das Individuum verwirklicht seine Persönlichkeit im Rahmen seiner KulturKultur; daher bedingt die Achtung individueller auch die Achtung kultureller Verschiedenheiten. …
2 Die Achtung kultureller Unterschiede folgt aus der wissenschaftlichen Tatsache, dass noch keine Methode zur qualitativen Bewertung von Kulturen entdeckt worden ist. …
3 Maßstäbe und Werte sind relativ auf die KulturKultur, aus der sie sich herleiten. Daher würde jeder Versuch, Postulate zu formulieren, die den Überzeugungen oder dem Moralkodex nur einer KulturKultur entstammen, die Anwendbarkeit einer MenschenrechtserklärungMenschenrechte auf die Menschheit als ganze beeinträchtigen. (Ethnologischer RelativismusRelativismus und MenschenrechteMenschenrechte, in: Texte zur Ethik, 39f.).1
Die ethische Ethik Schlussfolgerung in Bezug auf den oben beschriebenen Fall müsste vielmehr die sein, dass alles darangesetzt wird, die Lebensverhältnisse und die wirtschaftlichen Bedingungen dieser Menschen so zu verbessern, dass die geschilderten Praktiken von selbst obsolet werden.
Bisher war die Rede von der Gruppenmoral im Rahmen unterschiedlicher KulturkreiseKultur. Im alltäglichen Erfahrungsbereich begegnet einem die MoralMoral jedoch nicht nur als ein kulturspezifisches Phänomen, das im Unterschied zu Sinndeutungen anderer gesellschaftlicher oder nationaler Handlungsgemeinschaften den Sinnhorizont der Handlungsgemeinschaft darstellt, in der der einzelne aufgewachsen ist und an der aktiv mitzuwirken er aufgerufen ist, sondern innerhalb der Gesamtmoral haben sich auch besondere MoralenMoral herausgebildet, deren RegelnRegel nur für einen Teil der gesamten Gruppe gelten.
So tritt die christliche Moral Moralchristliche mit dem Anspruch religiös fundierter moralischer RegelnRegel an die Christen heran, wobei diese RegelnRegel nach katholischer Überzeugung sowohl ihrer Form als auch ihrem Inhalt nach anders ausfallen als nach evangelischer Auffassung – von den zahlreichen Sekten und Weltanschauungslehren ganz zu schweigen.
So hat jeder Beruf mehr oder weniger ausdrücklich sein eigenes Berufs- oder Standesethos entwickelt, dessen Normen für den verbindlich sind, der diesen Beruf gewählt hat und ausübt.
Der »Eid des HippokratesHippokrates« verpflichtet den Arzt in Anwendung der allgemeinen moralischen Forderung, seinen Mitmenschen in der Not zu helfen, auf die ärztliche Tätigkeit dazu, nach bestem Wissen und Gewissen für das körperliche Wohlergehen und die Gesundheit der ihm anvertrauten Patienten zu sorgen.
Das EthosEthos des Lehrers besteht in der Forderung, die Schüler über die angemessene Vermittlung bestimmter Wissensinhalte zu aufgeklärten, mündigen Menschen zu erziehen.
Das EthosEthos des Busfahrers liegt in der Verantwortung für seine Passagiere, die er ungefährdet an ihr Ziel zu bringen hat.
Diese Liste lässt sich beliebig fortsetzen über die »Arbeiter-«, »Angestellten-« und »Beamtenmoral« bis hin zur »Hausfrauenmoral«. Alle diese BerufsgruppenmoralenGruppenmoral basieren auf dem allgemeinen moralischen Grundsatz, das Seine im Beruf so gut wie möglich zu tun. Hier wird also der Arbeit an sich selber ein Wert zuerkannt, oder anders gesagt: Arbeit ist nicht allein definiert durch die technischen RegelnRegel, die einen reibungslosen Arbeitsprozess ermöglichen, sondern Arbeit ist zugleich eine Tätigkeit, die auf der Basis von moralischen RegelnRegel ausgeübt wird – besonders dort, wo andere Menschen mittelbar oder unmittelbar mitbetroffen sind.
Einen Sonderfall stellt die MoralMoral einer Räuberbande dar. Auch sie ist eine GruppenmoralGruppenmoral, ohne die die Gemeinschaft der Räuber nicht funktionieren würde. Es muss also z.B. geregelt sein, nach welchem Schlüssel die Beute verteilt wird, damit es gerecht zugeht; wie der einzelne sich zu verhalten hat, wenn er geschnappt wird: er darf nicht ›singen‹, um die anderen nicht zu gefährden etc. Hier geht es um die sog. Ganovenehre, um das Ethos des Berufsverbrechers, das ebenfalls eine GruppenmoralGruppenmoral ist.
Weitere Spezialisierungen der allgemeinen GruppenmoralGruppenmoralMoral einer Gemeinschaft oder Gesellschaft artikulieren sich einerseits in Ehrenkodizes Ehrenkodex, andererseits in oft stillschweigend respektierten Tabuzonen. Hier werden bestimmte Selbstwertvorstellungen, die durch AnerkennungsprozesseAnerkennung vermittelt sind, manifest.
Die Berufs- oder Standesehre z.B. ist eng mit den im Berufsethos zusammengefassten Regeln verknüpft, und wer gegen diese Regeln verstößt, schadet nicht nur dem eigenen Ansehen, sondern dem ganzen Berufsstand.
Ein KaufmannKaufmann, A., der minderwertige Ware zu überhöhten Preisen verkauft, verletzt seine Berufsehre ebenso wie ein Politiker, der nur seine Machtinteressen verfolgt, anstatt sich für die von ihm zu vertretenden Belange einzusetzen, oder wie ein Handwerker, der mangelhaft arbeitet. In derartigen Fällen wird dem Betreffenden die AnerkennungAnerkennung sowohl vonseiten der Betroffenen versagt (man kauft bei ihm nicht mehr ein, wählt ihn nicht mehr, ruft ihn nicht mehr zu Reparaturen) als auch vonseiten der Berufsgruppe, was den Ausschluss aus dieser Gruppe zur Folge haben kann.
Umgekehrt wird besonders vorbildliches Verhalten im Dienst am Mitmenschen durch öffentliches Lob oder die Verleihung von Preisen und Orden ausgezeichnet.
Eine besondere Art von EhrenkodexEhrenkodex stellt die Stammes- und Familienehre dar. Auch hier wird ein Verstoß gegen die Regeln (z.B. eine unstandesgemäße Heirat oder ein Eingriff von außen, wie etwa eine unbefugte Grenzüberschreitung) zumeist mit dem Ausstoß aus dem Familienclan, ja gelegentlich auch heute noch mit Blutrache geahndet.
Als besonders schwerer moralischer Verstoß gegen Anstand und SitteSitte gilt im alltäglichen Erfahrungsbereich die Verletzung eines Tabus Tabu. Waren es früher hauptsächlich der religiöse und der sexuelle Bereich, in dem durch Verbote unter Androhung schlimmer Strafen gewisse Bezirke (des Heiligen, Numinosen, bzw. bestimmte erotische Spielarten) ausgegrenzt, als unzugänglich (»unberührbar«) deklariert und der menschlichen Praxis untersagt wurden, so gilt heute die individuelle Privat- und Intimsphäre eines jeden als tabu. Sowohl die zu weit gehende Zurschaustellung dieses persönlichen Bereichs vonseiten bekannter Persönlichkeiten als auch unverschämte Übergriffe vonseiten der Massenmedien werden trotz der Neugier des Publikums in der Regel von den meisten als schamloser, unanständiger Eingriff in Dinge, die die Öffentlichkeit nichts angehen, empfunden.
Bei allen TabusTabu muss grundsätzlich immer wieder gefragt werden, inwieweit sie in der Tat noch dem Schutz wirklicher WerteWert wie MenschenwürdeMenschenwürde und persönliche FreiheitFreiheit dienen, oder ob sie nicht zu bloßen Druckmitteln entartet sind, um missliebiges Verhalten einzuschränken und Kontrollfunktionen über das erlaubte Maß hinaus auszudehnen. Tabus können veralten und aufgehoben werden, wenn sich herausstellt, dass die Menschen inzwischen einen natürlicheren oder aufgeklärteren Zugang zu dem ursprünglich tabuisierten Bereich gefunden haben, sodass die alten Verbote hinfällig werden oder einer Modifikation bedürfen. Als Beispiele wären hier die veränderte Beurteilung des Inzests und der Homosexualität zu nennen.
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