Sie nahm ihm den Krug ab. Ihren verkrampften Händen nach musste sie den Krug wirklich sehr schwer finden.
„Übrigens, ich heiße Marle“, sagte sie.
Der Junge lächelte scheu und wandte sich zum Gehen.
„Bleibt ihr länger?“, rief sie ihm hinterher.
Er drehte sich noch einmal zu ihr um. „Keine Ahnung. Mein Vater hat nichts gesagt.“
Grau kam zum Essen. Verblüfft sah Marle zu, wie viel Fleisch der kleine Kerl in sich hinein schaufelte. Der musste doch beinahe platzen!
„Womit handelt ihr eigentlich?“
„Wir haben Pelze. Schöne, warme Pelze.“
„Die würde ich mir gerne einmal ansehen.“ Marle tastete nach dem Pelzbesatz ihres Rockes. Zum Winter wollte sie sich ein neues Tanzkleid nähen.
„Du kannst ja nachher mit zum Markt kommen.“
„Da musst du mich etwas später abholen. Ich muss erst noch hier meine Arbeit erledigen.“
Der Junge nickte nur.
Nach dem Essen trottete er ohne ein weiteres Wort davon.
Marle erhob sich mit einem Seufzer und begann, das dreckige Geschirr nach draußen zum Wasserbecken zu schaffen.
Jemand trat ihr in den Weg. Verblüfft sah sie auf. Großmutter!
„Du wirst ihn nicht wieder treffen.“
Marle sah die Duka überrascht an. „Warum nicht?
„Dieser Junge…“
„Grau“, unterbrach Marle sie. „Er heißt Grau.“
„… dieser Junge könnte gefährlich sein.“
„Großmutter! Er ist vielleicht neun Winter alt, und ich bin fast eine erwachsene Frau! Wie soll mir dieser Junge gefährlich werden?“
Die Duka starrte ihre Enkelin an. „Ich habe ein schlechtes Gefühl bei ihm“, sagte sie schließlich. „Und mein Gefühl hat mich noch nie getrogen. Bleib weg von ihm!“
„ Ich habe aber ein gutes Gefühl bei ihm“, trotzte Marle. „Sagst du nicht immer, eine Frau soll ihrem eigenen Urteil vertrauen?“
„Nur, solange sie dabei auch ihren Verstand einsetzt. Was weißt du über den Jungen oder seinen Vater? Vermutlich so viel wie ich, nämlich nichts. Wie kannst du jemandem vertrauen, über den du nichts weißt?“
„Ich weiß, dass er mir geholfen hat. Und dass er ein freundliches Lächeln hat.“
„Das ist nichts. Das ist nur seine Oberfläche. Du weißt nicht, was er denkt, kannst es gar nicht wissen. Er könnte ein Feind sein, der dir bei nächste Gelegenheit mit eben diesem freundlichen Lächeln ein Messer zwischen die Rippen stößt. Du wirst nach mir die Duka sein. Als Duka musst du auch an solchen Möglichkeiten denken. Du darfst dich nicht von einer glatten Oberfläche täuschen lassen. Versprich mir, dass du ihn nicht wieder triffst.“
Marle senkte den Kopf. „Das kann ich nicht. Ich habe ihm versprochen, mit ihm zum Markt zu gehen. Ich breche mein Versprechen nicht.“
Die Duka spürte den Hauch des Unheils. Fern noch, aber es war da. „Dann versprich mir wenigstens eins, Tochter meiner Tochter. Versprich mir, dass du vorsichtig bist. Dass du weder ihm noch seinem Vater aus dem Ort hinaus folgst. Dass du weder ihm noch seinem Vater Dinge verrätst, die uns gefährden könnten. Versprich mir, dass du deine Zunge hütest und mit deinem Verstand denkst, nicht mit deinem Herzen.“
Marle nickte sehr ernst. „Das verspreche ich, Großmutter.“
Wenn die Großmutter Recht hatte? Marle gab es ungern zu, aber es war tatsächlich etwas Mysteriöses um ihren kleinen Freund und seinem Vater. Sie handelten mit Pelzen aus den Eisbergen. Aber keiner von beiden sah aus wie einer der Eisleute. Und sie erzählten nichts. Alle anderen Händler erzählten von sich, spätestens dann, wenn sie betrunken waren und bei einer der Frauen unter die Decken krochen. Graus Vater trank nicht. Und er kroch auch unter keine Decke.
Marle ging mit Grau zum Markt. Was immer mit seinem Vater war, der Junge schien ihr trotzdem ungefährlich. Nicht nur ungefährlich. Grau war nett. Und im Gegensatz zu den Jungen und Männern ihres Volkes, die fast vor Ehrfurcht erstarrten, wenn die zukünftige Duka das Wort an sie richtete, behandelte Grau sie nicht anders als die anderen Sippenfrauen.
Marle schlug den Rat der Duka nicht in den Wind. Aber sie beschloss, ihn vorübergehend auszusetzen. Zumindest, soweit es den Jungen betraf.
Hinen nannte sich die rundgesichtige Bergfrau in den bunten, weiten Röcken, die mit einem Brief der Duka zu Sirit gekommen war und sich zum Bleiben eingerichtet hatte. Sehr schnell hatte Sirit Hinen davon überzeugt, dass die schwere Kleidung der Berge hier in Karapak eher hinderlich war. Hinen schien erleichtert, als sie sich aus den dicken Stofflagen geschält und ein dünneres karapakisches Kleid angelegt hatte. Erleichtert, aber auch ein wenig irritiert. Sie drehte sich wie ein Kreisel um sich selbst. „Hm“, stellte sie kritisch fest. „Ein wenig hinderlich in der Bewegung. Aber deutlich besser in dieser Wärme. Und es wiegt verdammt wenig. Vermutlich werde ich mich immer wieder überzeugen müssen, dass ich überhaupt etwas anhabe.“
Aber das musste sie nicht. Es dauerte kaum zwei, drei Tage, dann hatte Hinen sich perfekt an die karapakische Kleidung gewöhnt. Sie bewegte sich im Palast, als ob sie nie etwas anderes getan hätte. Nur ihre sehr viel raumgreifenderen Bewegungen, ihre hellen Augen und der schwere Akzent ihrer Sprache verrieten noch, dass sie nicht aus Karapak stammte.
Taephe war begeistert. Eine Frau als Lehrer, eine Lehrerin alleine für sie! Noch dazu eine, die ihr nicht nur langweilige Dinge wie Sticken, Singen und Tee ausschenken beibrachte, wie es die anderen Frauen im Palast versuchten. Außer Sirit natürlich, die lehrte Taephe interessantere Dinge. Aber Sirit hatte immer so schrecklich wenig Zeit.
Hinen dagegen hatte Zeit, schließlich war sie nur Taephes wegen gekommen. Hinen lehrte Taephe kirsitanische Geschichte und kirsitanische Sprache. Hinen lehrte Taephe kirsitanische Bräuche. Und sie lehrte Taephe den Umgang mit Frauenwaffen. Hinen hatte ein kleines Arsenal davon mitgebracht. Auf Sirits Befehl wurde ein kleiner Meditationshof im Sommerharem zum Übungsplatz umfunktioniert, und Sirit sorgte dafür, dass Hinen und Taephe bei ihren Übungen ungestört und unbeobachtet blieben. „Hätte ich nicht zu kämpfen gelernt, wäre ich heute nicht mehr“, hatte die Mutter des Königs als Begründung gesagt. Taephe hätte die Frau am liebsten in den Arm genommen und sich überschwänglich bedankt. Aber das war nicht schicklich. So hatte sie nur vor Sirit gestanden und ein leises „Danke“ gehaucht. Die Mutter des Königs hatte zur Antwort gelächelt.
Hinen war froh, dass sie den Palast nie verlassen musste. Diese riesige, lärmende Stadt da draußen machte ihr Angst. Wie konnten so viele Menschen es nur aushalten, so eng zusammen zu leben?
Verstohlen musterte sie die Nichte der Duka. Sirit war in den letzten Monden dazu übergegangen, eine meelasianische Stirnbinde zu tragen. Die herabhängenden Perlfransen verdeckten weitgehend den Blick auf ihre unheimlichen Spiegelaugen. Die Damen im Palast schwärmten für diese Stirnbinde. Hinen nicht. Immerhin befanden sich Meelas und Kirsitan seit einigen Jahrhunderten in Dauerfehde. Hinen hätte die Scherbenaugen vorgezogen.
„Und wie macht sich Taephe?“, fragte Sirit.
„Sie ist eine intelligente und wissbegierige Schülerin“, gab Hinen zurück. „Ein wenig steif in den Übungen, natürlich. Man merkt, dass sie hier wenig Bewegung hatte. Aber das werde ich im Laufe der Zeit regeln können. Sie ist noch jung genug.“
„Nimm dir nicht zuviel Zeit“, sagte Sirit. „Taephe muss schnell lernen. Ich fürchte, die Männer, die über ihr Schicksal entscheiden können, werden sie nicht mehr sehr lange hier dulden. Bring ihr die wichtigsten Dinge zuerst bei. Zeig ihr, wie sie überleben kann.“
Hinen nickte stumm. Sirit wusste, wovon sie sprach. Ihre Narben legten Zeugnis davon ab.
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