Von dem warmen Wind geweckt, entfaltete das Wesen überlange Gliedmaße und machte einen taumeligen Schritt in die neuerdings blaue Bergwiese. Verwundert zog es seinen Fuß wieder zurück, als es die nickenden Blütenköpfe berührte, und beugte sich interessiert hinab. Einen Moment bildete sich an seinem Kopf eine Öffnung, eine lange Zunge schnellte heraus und tastete vorsichtig über die Blüten. Die Zunge verschwand, der Rachen schloss sich wieder, das Wesen hob fragend den Kopf. Der Mann, der mit dem Südwind wieder aufgetaucht war und jetzt näher herankam, sagte freundlich: „Das sind nur Blumen. Pflanzen. Es schadet nicht, wenn man auf ihnen geht.“ Wie zum Beweis seiner Worte machte er ein paar weitere Schritte durch das blaue Blütenmeer und stand nun direkt vor dem Wesen.
Das Wesen sandte eine wortlose Frage.
„Wir sind … verwandt“, sagte der Mann. „Deshalb bin ich bei dir.“
Die Frage wurde drängender.
Der Mann lächelte. „Es gibt so etwas wie Worte, weißt du? Damit kann man Fragen sehr viel genauer formulieren als nur mit Gefühlen. Hier, sieh dir an, wie ich es mache.“ Und er öffnete seinen Geist.
Das Wesen sah, was der Mann tat, und wie er es tat, und eignete sich dieses Wissen an. Dann sandte es erneut eine Frage, dieses Mal aber in Worte gekleidet. Warum bist du alleine hier?
„Die Frau, die dich gebar, ist zu weit fort. Nicht nur das, sie ist zudem völlig unwissend.“
Das Wesen drückte zweifelndes Bedauern aus. Kannst du sie nicht wissend machen?
Der Mann schüttelte den Kopf. „Das hätte eine andere machen müssen.“ In seinem Geist formte sich das Bild einer Frau, die nicht die Frau war, die das Wesen geboren hatte.
Das Wesen zuckte zusammen und zischte.
Der Mann wartete.
Das Wesen beruhigte sich wieder. Bring mich zu jener anderen.
„Willst du das wirklich?“
Ja.
Der Mann sah das Wesen an.
Das Wesen sah den Mann an.
Der Mann seufzte. „Dann wirst du dich noch einmal wandeln müssen“, sagte er. „In eine … gebräuchliche … Gestalt.“
Das Wesen sandte eine wortlose Frage.
Der Mann überlegte kurz. „Die Frau, die dich geboren hat, gebar noch andere Kinder. Deine Brüder. Das gleiche Blut verbindet euch. Taste dich an dem entlang, was dich mit ihr verbindet, bis zu dem, was sie mit deinen Brüdern verbindet. Dann nimm dir ihre Gestalt.“
Das Wesen gehorchte.
Als es fertig war, stand ein nackter Junge von vielleicht acht Wintern auf der Bergwiese. Ein Junge, der die Gestalt seiner Brüder hatte. Ein Junge, dessen Haut und Haare fast so hell waren wie das Gespinst, und dessen Augen farblos waren wie Eis.
Der Junge sandte eine weitere Nachricht.
Wer bin ich?
Der Mann lächelte. „Du bist ihr Sohn. Du bist mein Sprössling. Ich werde dich also ebenfalls als meinen Sohn bezeichnen. Vorerst. Du wirst leben und wachsen und lernen, und irgendwann wirst du deinen wahren Namen finden. Dann wirst du wissen, wer du bist. Bis dahin werde ich dich Grau nennen. Und du wirst lernen müssen, zu reden. Die Menschen werden dich sonst nicht verstehen.“
Einen Moment schien es, als ob der Junge protestieren wollte. Aber aus seinem Mund kam kein Laut. Dann sandte er:
Ich habe Hunger.
Der Mann nickte nur. „Komm.“
Er ging fort, ohne sich umzusehen.
Der nackte Junge trottete hinter ihm her.
Es kribbelte in ihrem Nacken. Jemand beobachtete sie. Die Duka hielt inne, ihre Hand, die gerade die Schoten abstreifte, sank auf die geflickte Schürze. Sie sah hoch. Und sah genau in ein paar eishelle Augen, die sie einen Moment intensiv musterten und dann schnell abschweiften.
Schon wieder dieser Junge. Die Duka war sich nicht sicher, weshalb, aber irgendwie beunruhigte der Junge sie. Strich ständig um die Koppeln und Hundezwinger, mit einem irgendwie hungrigen Ausdruck.
Der Junge gehörte zu dem Mann aus den Eisbergen, der seit einigen Tagen in der Stadt weilte, um Pelze zu verkaufen. Soviel hatte die Duka bereits herausgekriegt. Die beiden behauptete, Vater und Sohn zu sein, auch wenn sie sich nicht sehr ähnlich sahen. Das heißt, irgendwo waren sie sich schon ähnlich. Nicht im Aussehen, wenn man von ihrer auffallend hellen Färbung absah, vielleicht aber in der Art, wie sie redeten, oder besser gesagt, meist nicht redeten, und wie sie sich bewegten. Die Duka war nicht umsonst, was sie war. Der Mann war gefährlich. Der Junge vermutlich auch.
Die Duka beschloss, die beiden besonders überwachen zu lassen.
Der Junge sah das Mädchen zur Quelle gehen. Sie bewegte sich, als ob sie tanzen wollte, und summte dabei ein Lied. Der Junge mochte das Lied. Langsam schob er sich näher.
Das Mädchen füllte den großen Wasserkrug. Er musste sehr schwer sein, denn als sie ihn hochheben wollte, hielt sie einen Moment inne und setzte ihn wieder ab. Der Junge verhielt unschlüssig. Dann ging er zu ihr „Ich kann dir helfen.“
Das Mädchen sah ihn mit einem nachsichtigen Lächeln an. „Kleiner, du bist kaum halb so groß wie ich. Danke für dein Angebot, aber meine Arbeit mach ich besser selbst.“
Statt zu antworten, griff der Junge nach dem Krug und hob ihn hoch. Es war einfacher, als er gedacht hatte. Der Krug war sogar ziemlich leicht. Der Junge überlegt kurz, dann begriff er. Die Menschen mussten deutlich schwächer sein als seinesgleichen. Was auch immer seinesgleichen war. Er würde entsprechend aufpassen und seine Kraft sparsam einsetzen müssen.
„Oh!“ Das Mädchen sah ihn überrascht an. „Du bist entschieden kräftig für dein Alter. Sag mal, ich habe dich noch nie zuvor gesehen. Zu welcher Sippe gehörst du, und wie heißt du?“
„Ich heiße Grau. Ich gehöre zu keiner eurer Sippen. Mein Vater und ich, wir sind hierher gekommen, um zu handeln.“
Das hatte ihm der Mann eingetrichtert. Nur das sollte er sagen, und sonst nichts.
„Und wer ist dein Vater?“
„Mein Vater ist … mein Vater.“
Ihre Lippen kräuselten sich ein wenig, aber ihre Stimme blieb ernst.
„Dann danke ich dir für deine Hilfe, Grau, Sohn eines namenlosen Händlers.“
Sie ging zurück in Richtung ihres Sippenhauses. Grau trottete nebenher, den Wasserkrug in den Armen.
„Woher kommt ihr überhaupt?“
Grau zuckte mit den Achseln, was mit dem Krug im Arm unbequem war. „Von dahinten, wo die Berge höher sind.“
„Da würde ich gerne einmal hingehen“, sagte sie. „Die Berge sehen so schön aus, wenn die Sonne sie erleuchtet.“
Der Junge dachte an die Berge. Die Berge … waren die Berge. Felsen, die man nicht essen konnte. Was war daran schön?
„Leider hat meine Großmutter es verboten“, fuhr das Mädchen fort. „Sie meint, ich sei noch zu jung, und die Berge seien zu gefährlich.“
„Ich könnte dich begleiten“, bot der Junge an. „Für mich sind die Berge nicht gefährlich. Ich lebe dort. Ich kann dich beschützen.“
Jetzt lächelte sie wieder. „Vielleicht später. Wenn du etwas größer bist. Und wenn ich etwas älter bin. Wenn ich jetzt gehen würde, wäre meine Großmutter zu Recht verärgert. Niemand verärgert meine Großmutter. Ich auch nicht. Schließlich ist sie die Duka.“
Der Junge erinnerte sich an das, was ihm der Mann erzählt hatte.
„Dann werde ich warten“, sagte er. „Vielleicht nächstes Jahr, wenn ich wiederkomme.“
„Vielleicht.“
Sie hatten das Sippenhaus erreicht.
„Willst du mit hereinkommen?“, fragte das Mädchen. „Wir haben gerade einen leckeren Hammeleintopf auf dem Feuer. Du kannst nachher mit uns essen.“
Der Junge zögerte. „Ich glaube, ich sollte erst meinen Vater fragen.“
„Mach das. Ich würde mich freuen, wenn du nachher wieder zu uns kommst.“
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