Hm Wenn er den Weg nicht fand, der hinausführte … was passierte, wenn er seine Energie zurückrief? Das war ein Gedanke. Wenn er die Energie im Auge behielt und sie tatsächlich zu ihm zurückkehrte, dann musste sie doch auf dem Rückweg die gleiche Lücke passieren wie auf den Hinausweg.
Und wenn nicht? Wenn der Spiegel sie einfach einsog, wie Spiegel es eben zu machen pflegten? Dann war es draußen dunkel. Dann war er wieder vollständig auf den Spiegel beschränkt. Möglicherweise gelang es ihm kein zweites Mal, seine Magie hinauszuschicken.
Frustriert stampfte er auf. Das brachte doch alles nichts. Hätte, könnte, sollte, mochte … wenn er es nicht probierte, würde er nie eine Antwort finden. Jetzt. Bevor er endgültig in unschlüssiger Apathie erstarrte.
Jo rief seine Magie.
Das Licht in der Bibliothek flackerte kurz auf, dann schwebte es zu dem Spiegel, der Jo gefangen hielt. Einen kurzen Moment hielt Jo inne. Dann befahl er dem Lichtball, langsam, ganz langsam zu ihm zurückzukehren. Das Licht sank herab. Es berührte die Sphäre. Den Bruchteil einer Sekunde gleißte sie auf, dann spürte Jo den Energiestoß, als das Licht in ihn zurückkehrte.
Das war verdammt schnell gegangen. Aber zum Glück nicht zu schnell. Der Bruchteil jener Sekunde hatte gereicht, um Jo die Schwachstelle zu zeigen. Sie befand sich direkt über ihm, im Zenit der Kuppel. Unerreichbar. Jo fluchte mit allem, was er an Verwünschungen von der Armee Karapaks und den Wüstenreitern gelernt hatte.
Audienzen waren langweilig. Und der Thron war unbequem. Natürlich, er war für einen erwachsenen Mann gedacht, nicht für einen achtjährigen Jungen, der gerade mal so groß war, dass er über das königliche Pfauenfeder-Zepter gucken konnte. Inagoro rutschte auf dem Thron hin und her. Nur ein ganz kleines bisschen, damit es niemand merkte. Viel lieber würde er jetzt mit seinen Freunden spielen. Noch lieber mit seiner Schwester Taephe. Mit der konnte man nicht nur prima Bogenschießen, mit der konnte er sich auch prima unterhalten. Taephe war schlau, und sie kannte alle wichtigen Dinge und Personen im Palast. Taephe konnte man immer fragen.
Natürlich gehörte sich das nicht. Seine Lehrer hatten ihm das immer wieder gesagt. Ein König holte sich keinen Rat bei einer Frau. Nur bei seiner Mutter machten sie eine Ausnahme, weil die so komische Zauberaugen hatte. Manchmal fürchtete Inagoro sich sogar ein bisschen, wenn er diese Augen sah. Aber wirklich nur ein bisschen. Sie war schließlich seine Mutter.
Die Lehrer hatten auch gesagt, er solle statt seiner Schwester lieber seine Freunde um Rat fragen. Besonders Mauro. Schließlich würde sein entfernter Cousin eines Tages sein Erster Feldherr werden, weil er keinen Bruder hatte, der diese Stelle einnehmen konnte. Seinen ersten Feldherren durfte ein König fragen. Mauro wusste auch viele Antworten. Mauro hatte schließlich Erfahrung. Die anderen Jungen waren alle etwas älter als Inagoro, und Mauro war der Älteste von ihnen. Da musste er ja wohl auch am besten Bescheid wissen.
Das Problem war nur, dass Inagoro Mauro nicht traute.
Sirit saß hinter dem seidenen Wandschirm und fächelte sich Luft zu. Zuerst hatte sie es hinderlich gefunden, dass die Regentin für die Mitglieder des Thronrates unsichtbar bleiben musste. Mittlerweile allerdings hatte sie gelernt, dass dieses Arrangement seine Vorteile hatte. So war es bedeutend einfacher, die Kontrolle zu behalten. Sie schrieb ihre Worte auf, und ihr Sprecher trug sie vor. Das gab ihr Zeit, überlegt zu formulieren, und verhinderte ausgesprochen effektvoll, dass die Männer, die auf der anderen Seite des Wandschirmes saßen, sofort wussten, woran sie mit ihr waren.
Nichtwissen erzeugte Furcht. Furcht erzeugte Gehorsam.
Bis zu einem gewissen Grad allerdings nur. Sie war immer noch eine Frau, und die auf der anderen Seite waren Männer. Diese Männer dort würden nie damit zufrieden sein, dass eine Frau genauso gut regieren konnte wie sie. Sirit wusste genau, dass sie nur dank der Unterstützung der Priester Regentin war. Die Männer wussten es ebenso. Und jeder von ihnen fragte sich, warum die Priester das so gewollt hatten.
Sirits Gedanken wanderten nach Tolor. Wie konnte es nur sein, dass diese beiden Länder so unterschiedlich waren? Was hatten die Karapakier gegen Frauen, dass sie ihnen so wenig zutrauten? Es war ja nicht so, dass die karapakischen Frauen dümmer waren als die tolorischen. Sirit dachte an Raina. Die Gildeherrin hatte ihre Gilde besser geführt als mancher Mann. Und trotzdem zählte ihre Stimme bei den Händlern nur, wenn es gar nicht anders ging. Warum nur hatten die Götter beschlossen, dass die Frauen in Karapak nichts zählten?
Ein leises Rascheln riss sie aus ihren Gedanken. Paschko, der Eunuch, der ihre Verbindung war zwischen dem Raum vor dem Schirm und ihrem Platz hinter dem Schirm, hatte sich umgedreht und gab ihr jetzt vollmundig eben jene Frage weiter, die sie doch gerade selbst mit eigenen Ohren gehört hatte. Und die sie nicht mit eigener Stimme beantworten durfte.
Sirits Pinsel flog über das Papier. Dann reichte sie Paschko ihre Antwort.
*
Der König musste einer Audienz beiwohnen. Sehr gut. Sein aufgezwungener Spielgefährte nutzte die Zeit, um sich außerhalb des Palastes in der Stadt zu vergnügen. Gefährlich war das nicht, weil er immer ein paar Palastwachen als Begleitschutz hatte. Allerdings war dieser Begleitschutz lästig, wenn man gewisse Dinge erledigen wollte.
Mauro steuerte ein Bordell an. Dort hinein würden ihm die Wachen nicht folgen. Sie würden auch nichts dabei finden, dass ein Vierzehnjähriger längere Zeit in so einem Haus blieb.
Mauro marschierte in das Haus hinein, durch einen langen Gang, und geradewegs am anderen Ende wieder hinaus. Wie immer wartete dort bereits der Bordellwirt, wie immer warf Mauro ihm ein Silberstück zu und verschwand dann in der angrenzenden Gasse. Es zahlte sich aus, wenn man gut schmierte.
Vier Straßen weiter bog er in einen unordentlichen Hinterhof ein, umrundete einen Schweinekoben und steuerte auf eine niedrige Tür zu. Sie öffnete sich in einen fensterlosen Raum. Als die Tür hinter Mauro zufiel, war es zunächst dunkel. Dann knisterte es, und eine kleine Öllampe leuchtete auf. Mauro schnappte erstaunt nach Luft. Dort am Tisch stand nicht der gewohnte Bote, nein, heute war sein Vater selbst gekommen!
„Und, wie läuft es?“
Mauro zuckte mit den Achseln. „Der König ist noch sehr jung. Ein richtiges Kind halt. Ich denke, er versteht überhaupt noch nicht, was ich ihm sage. Immerhin akzeptiert er, dass ich älter bin und mehr weiß, und tut deshalb meist, was ich ihm rate.“
„Er ist ein Enkel meines Cousin Kanata“, knurrte sein Vater. „Und der Sohn Tolioros. Wenn der wirklich so dumm ist, wie du meinst, würde mich das sehr wundern. Pass auf, was du sagst, übertreibe es nicht. Und geh kein Risiko ein. Solange der Junge im Palast bleibt, darfst du ihm kein Haar krümmen. Wenn ihm etwas passiert, wird der Verdacht automatisch zuerst auf dich fallen. Du wärst derjenige, der den größten Vorteil aus seinem Ableben ziehen würde. Also, halt dich zurück.“
Mauro schon die Unterlippe vor. „Muss ich denn die ganze Zeit vor diesem Bengel buckeln?“
„Blödsinn!“ Sein Vater trat näher und beugte sich etwas vor. Seine Augen glitzerten wie nasse Steine im Licht der Lampe. „Du sollst nicht buckeln. Du darfst ihm durchaus widersprechen. Du darfst nur nie vergessen, wer welchen Rang hat.“
„Und wenn ich nie eine passende Gelegenheit zu mehr bekomme?“
„Solange du im Palast bist, kannst du auch auf eine Gelegenheit warten. Früher oder später wird sich eine ergeben. Das tut es immer.“ Die Hand seines Vaters schoss vor und packte schmerzhaft in Mauros Haare. Der Junge keuchte auf. „Du wirst nur dann keine Gelegenheit bekommen, wenn du aus dem Palast verwiesen wirst.“ Die Stimme seines Vaters klirrte jetzt vor Kälte. „Sollte das je passieren, weiß ich, dass du einen Fehler gemacht hast. In unserer Familie macht niemand einen Fehler. Niemand! Solltest du je einen Fehler machen, bist du nicht mehr mein Sohn. Dann werde ich dich häuten, in kleine Stücke schneiden und den Vögeln zum Fraß vorsetzen. Dann mögen die Windgeister dich für alle Ewigkeiten um die Welt schleifen.“
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