In der Zwischenzeit hatten sie vier weitere tote Händler gefunden.
Die Händler wussten nichts von dem Tod, der mit dem Frost kam. Niemand hatte sie gewarnt.
Ihr eigenes Volk war gewarnt. Noch hatte es unter den Sippen keine Toten gegeben. Aber es gab nur eines, dass die Frostgeister auf Distanz halten konnte: Feuer. Und es gab kaum Holz in den Bergen. Der Dung der Tiere wurde bereits für die Feuer in den Sippenhäusern benötigt. Sie würden Brennmaterial aus dem Tiefland zukaufen müssen. Viel Brennmaterial. Die Duka seufzte. Sie sah den kommenden Verhandlungen durchaus nicht begeistert entgegen.
Acht Kerzen später brummte ihr der Kopf. So viel Gerede, so viele Zwischenrufe. Sie hatten lange palavert und wenig erreicht. Konnten oder wollten die anderen Sippenältesten nicht sehen, was da direkt unter ihrer Nase passierte? Oder lag es daran, dass bislang nur Fremde zu Tode gekommen waren? Aber was immer dort in den Bergen lauerte, früher oder später würde es auch kirsitanisches Blut trinken. Die Duka war sich dessen sicher. Die anderen Frauen sahen die Gefahr einfach nicht. Nur mit viel Widerstreben hatten sie sich wenigstens auf eines geeinigt: die Wachen in den Bergen würden verstärkt werden.
Die Duka fühlte sich erschöpft. Die Luft war zum Schluss stickig geworden in der Halle der Worte. Sie war froh, dass das Gerede für heute zu Ende war. Sie verzichtete auf eine Fackel. Es war beinahe Vollmond, die Nacht würde hell genug sein.
Draußen atmete sie tief die Herbstluft ein. Es lag bereits Frost im Wind. Der Winter kündigte sich wie immer früh an in den Bergen. Der Duka war es recht. Die Herden waren fett, die Felder abgeerntet, das Heu eingebracht. Ihre Sippe würde den Winter satt und warm im Sippenhaus verbringen. Es war alles so, wie es sein sollte.
Bis auf das, was in den Bergen wartete.
Die Duka fühlte, wie ihr Herz bei dem Gedanken schneller schlug. Es brachte nichts, wenn sie jetzt gleich heim ging und zu schlafen versuchte. Aus Erfahrung wusste sie, dass sie nach so einer Sitzung geraume Zeit brauchen würde, bevor der Schlaf kam, und dass ihr am nächsten Morgen der Schädel hämmern würde. Ihr Kopf wurde schneller wieder klar, wenn sie noch ein Weilchen wach blieb und umherging.
Die Duka umrundete die Sippenhäuser. Weiter hinten lagen die Koppeln und die Ställe. Noch waren die meisten Tiere in den Koppeln, in die Ställe kamen sie erst, wenn der Schnee so hoch lag, dass sie sich nicht mehr selbst Futter suchen konnten.
Ein leises Wiehern ertönte. Das klang nach Sima, ihre Lieblingsstute, die sie vor vier Wintern mit der Flasche aufgezogen hatte. Die Duka ging langsam weiter bis zur Koppel ihrer Sippe. Sima wartete am Zaun und machte einen langen Hals. Ihr Atem strömte warm auf die Hand der Duka. Sie lächelte, kramte in ihrer Tasche nach einem schrumpeligen Apfel und hielt ihn Sima hin. Die Stute schnupperte, nahm dann mit weichen Lippen den Apfel von ihrer Handfläche und kaute genüsslich. Die Duka strich ihr über die Stirn. „Bist ein braves Mädchen, meine Süße.“
Während Sima langsam zur Herde zurücktrabte, wandte die Duka sich ihrem Sippenhaus zu. Es wurde zu kalt, noch länger hier draußen zu bleiben. Ihr Umhang war nur für den Tag gedacht und für die Bergnacht unzulänglich.
Eine Bewegung lenkte ihren Blick zur Seite. Die kleine Koppel unweit des Sippenhauses, in der verletzte und schwache Tiere aufgepäppelt wurden. Irgendetwas bewegte sich darin. Erneut schlug ihr Herz einen Trommelwirbel. Sie versuchte zu erkennen, was dort war. Es war klein. Es wirkte nicht wirklich bedrohlich. Aber der Schein konnte täuschen. Die Duka fasste nach ihrem Messer und trat näher an die Koppel. Das Etwas bewegte sich und wandte ihr den Kopf zu. Ein Kind? Was tat ein Kind in der Nacht auf dieser Koppel? Die Kinder sollten alle in der warmen Sicherheit der Sippenhäuser sein!
Die Duka öffnete das Gatter und trat in die Koppel.
Sie kam nicht weit. Kaum, dass sie sechs Schritte gemacht hatte, flog das Kind förmlich in die Luft und rannte dann mit einer geradezu unheimlichen Geschwindigkeit in die entfernteste Ecke der Koppel. „Bleib doch, ich tue dir nichts!“, wollte die Duka rufen. Doch in dem Moment, als sie den Mund öffnete, schien etwas in ihr zu reißen. Aus ihrem Mund kam nur ein Gurgeln. Dann wurde ihr schwindelig, und sie fiel.
Die Duka versuchte, sich aufzurichten. Stechender Schmerz schoss durch ihre Brust und zwang sie wieder hinab. Einen Moment war sie zu erschöpft, um auch nur zu denken. Und jetzt? Sie brauchte Hilfe.
Die Duka versuchte, zu rufen. Aus ihrer Kehle kam nichts als ein kaum hörbares Krächzen. Verzweifelt krallte sie ihre Finger in das reifüberzogene Gras. Sie durfte hier nicht liegen bleiben. Die Nacht war kalt. Zu kalt, um sie zu überleben.
Erneut versuchte sie, sich zu bewegen. Nichts. Ihre Hände gelangten kaum zwei Fingerbreit weiter, ihr Körper rührte sich nicht. Die Duka stöhnte auf.
Schritte. Leichte Schritte. Hilfe!
Die Duka wendete mühsam den Kopf. Jetzt erkannte sie das Kind. Es war der merkwürdige Junge, der seit drei Sommern mit seinem Vater hierher kam. Dieser Junge, der sich aus unerfindlichen Gründen dann immer in ihrer Nähe herumtrieb.
Die Duka krächzte erneut. Der Junge war jetzt bei ihr, ging in die Hocke und sah sie interessiert an. „In dir ist etwas kaputt gegangen“, stellte er fest. „Hier…“, sein Finger wanderte über ihre Herzgegend, „… und hier.“ Sein Finger wanderte zu einer Stelle an ihrer Schläfe. „Ich hatte nicht erwartet, dass es so erfolgreich sein würde.“
Was meinte der Junge? Die Hände der Duka zuckten, ihre Lider flatterten.
Der Junge beugte sich vor, so dass er ihr genau in die Augen sah.
„Du wolltest, dass ich sterbe.“
„Niemals!“, wollte die Duka sagen, aber wieder gelang ihr nur ein Krächzen.
„Doch, du wolltest es. Und als meine Mutter nicht zustimmte, hast du sie gezwungen, mich auszusetzen.“
Die Duka wollte wieder aufbegehren, aber schon fuhr der Junge fort: „Ich finde, es ist ausgesprochen gerecht, dass du jetzt dort stirbst, wo ich sterben sollte.“
Wo er sterben sollte? Plötzlich erinnerte die Duka sich. Das missgestaltene Kind, das in eben diesem Pferch im kalten Schlamm gelegen hatte. Aber der Junge sah so vollkommen anders aus …
„Du hättest mir nur etwas mehr Zeit geben müssen“, sagte der Junge. „Nun wirst du sterben.“
Die Duka versuchte, etwas zu fragen.
Der Junge lächelte. „Oh, ich darf dich nicht direkt töten. Wir sind vom gleichen Blut, erinnerst du sich? Für meinesgleichen ist es tabu, die vom gleichen Blut zu töten. Ich habe lediglich den Druck in deinem Blut ein wenig höher gemacht. Genügend, dass einige deiner alten Adern es nicht mehr ausgehalten haben. Nicht genügend, um dich zu töten.“
Er stand auf. „Aber wir beide wissen, dass ich dich gar nicht töten muss. Eine Nacht hier draußen, und dein Körper stirbt von alleine. Vielleicht stirbst du also heute. Wahrscheinlich sogar.“
Er berührte die Duka leicht mit der Spitze seiner Zehen. Bloße Zehen an nackten Füßen, die nicht so wirkten, als ob ihm kalt war. „Solltest du überleben, nun, dann haben die Götter das entschieden. Ich betrachte uns beide hiermit als quitt.“
Er drehte sich um und ließ die Duka mit ihren Fragen und ihrem Tod alleine.
Aus den Augenwinkeln sah die Duka, wie er die Koppel verließ. Einen Moment war ihr, als sähe sie plötzlich große Schwingen aus seinem Rücken sprießen. Aber das konnte unmöglich sein.
Die Duka schloss die Augen und dachte an das Kind, das damals hier im Schlamm gelegen hatte. Ein Lied fiel ihr ein. Ein Lied, das ihre Großmutter ihr oft gesungen hatte. Ein Lied, an das sie sich damals nur hätte erinnern müssen. Ein Fehler … ein tiefgreifender Fehler … wie hatte ihr das passieren können?
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