Fast schon automatisch wich er einer besonders fiesen Felszacke aus, die vor ihm in den Weg ragte. Und sprang mit einem erschrockenen Japsen hoch, nur um sich erneut den Kopf an der rauen Felsdecke zu stoßen. Er hatte die Felszacke gesehen! Jetzt war wieder alles stockfinster. Wie hatte er das gemacht? Einfach … nichts gemacht? Ioro versuchte es. Konzentrierte sich darauf, sich auf nichts zu konzentrieren. Und tatsächlich, wie durch Geisterhand erschienen die Konturen der Felsen vor seinen Augen. Das also hatte der Schamane gemeint. Es gab für Zauberer Wege, die Dinge auf eine völlig andere Art zu sehen.
Der Rest des Weges war einfach. Der Schamane gab nur einen knappen Kommentar, als er ihn einholte. „Na endlich.“
Ioros Beinmuskeln protestierten bereits energisch, als sie endlich das Ende des Spalts erreichten. Zuerst fiel Ioro nur auf, dass es deutlich heller wurde. Dann öffnete sich der Spalt, zuerst zu einer großen Höhle, und dann zu einem Talkessel, der rundum von hohen Bergen umgeben war. Die Berge waren imposant, mit steil abfallenden Felswänden. Kein Mensch würde hier heraufklettern können. Und sie leuchteten. An ihrem oberen Ende, auf das noch die Sonne schien, glühte die Felsenwand rot, weiter nach unten veränderte die Farbe sich zu einem Purpur, der im Schatten am Fuß der Felsen fast zu schwarz wurde. Am erstaunlichsten aber war das Grün. Das ganze Tal war grün. Bäume, Büsche, Gras, soweit er sehen konnte. Grün, das überall aus dem roten Sand spross. Ein fruchtbares Tal, mitten in der Wüste.
„Wer lebt hier?“, fragte er staunend.
„Niemand.“
„Aber … warum nicht?“
„Dies“, sagte der Schamane, „ist das Tal, in dem die Roten Zelte geboren wurden. Der Ort, in dem unsere Sagen beginnen.“ Er machte eine ausladende Bewegung mit der Hand. „Das, was du hier siehst, mein Schüler, ist ein einziges, riesiges Grab.“
Ioro war heilfroh, dass der Schamane ein Feuer entfacht hatte. Wer wusste schon, wie viele Geister an diesem Ort noch umherirrten. Die Nacht war wärmer als draußen in der Wüste, die Felsenwände hielten die Wärme des Tages gespeichert. Ein kleiner Bach gluckste nicht weit von ihnen über sein steiniges Bett. Kaum merklich zupfte eine leichte Brise an den Blättern. Grillen zirpten. Der Schamane stocherte in der Glut. Ioro schlang die Arme um seine Knie. Ein Bett wäre jetzt angenehm. Selbst das Feldbett eines Kriegszeltes.
„Sch“, tadelte der Schamane, „ein einziger Tag nur, und schon bist du müde! Kein Wunder, dass die karapakischen Soldaten uns nie erwischt haben!“ Er warf das Zweiglein in die Glut. Das Feuer versprühte ein paar Funken. Das Holz knackte und ging in Flammen auf.
„Früher ...“, sagte der Schamane leise. Es war fast, als ob er mit sich selbst sprach. „Früher lebten viele Menschen hier. Überall in diesem Land. Früher war hier noch keine Wüste. Oder zumindest war sie kleiner, sehr viel kleiner. Dort draußen, wo heute nur der Sand weht, da war grünes Land. Dort weideten Herden. Man sagt, es gab damals noch keine Königreiche. Vielleicht stimmt das. Vielleicht gab es ein paar, nur waren sie einfach so klein, dass wir sie heute nicht mehr als solche erkennen. Jedenfalls, damals herrschten keine mächtigen Könige. Damals herrschten mächtige Zauberer. Es heißt, dass sie um die Macht stritten. Wenn die Mächtigen sich streiten, dann werden die Kleinen zwischen ihnen zermahlen. Das war immer schon so. Und so geschah es auch hier. Die Zauberer stritten und die Menschen starben. Zusammen mit den Menschen starben die Herden, und das Gras, und alles andere. Einige Menschen zogen sich in dieses Tal zurück, in der Hoffnung, dass sie hier vor den Zauberern in Sicherheit waren.“ Der Schamane verstummte.
„Und?“, fragte Ioro nach einer Weile.
„Es waren am Ende sehr viele Menschen im Tal.“ Der Schamane hob den Kopf und sah hinaus in die Nacht. Es war, als ob er etwas gehört hatte.
Ioro lauschte angestrengt. Aber die Grillen zirpten ungestört weiter.
„Wir wissen nicht sicher, was geschah“, sagte der Schamane, „Möglich, dass einer der Zauberer zufällig das Tal fand. Möglich, dass es einen Verrat gab. Gefunden wurde es jedenfalls. Damals, musst du wissen, waren diese Klippen weiß.“ Er deutete auf den Boden, der im Schein des Feuers zu brennen schien. „Damals war der Sand in diesem Tal weiß. Die Menschen wohnten wie heute in Zelten aus Ziegenfell. Aber auch diese Zelte waren weiß.
Jedenfalls, sie fanden unsere Zuflucht. Zuerst versuchten wir, irgendwie Frieden zu halten. Zahlten den Zauberern Abgaben. Aber sie forderten immer mehr. Irgendwann forderten sie zu viel. Und wir gehorchten nicht mehr.
Und dann kam der Zauber über uns. Keiner weiß, wie lange er dauerte. Die, die überlebten, sagten, es sei ihnen wie eine Ewigkeit vorgekommen. Es gab nicht viele, die überlebten. Am Ende des Tages war der Sand rot, waren die Berge rot, waren die Zelte rot. Und die Menschen und Tiere lagen dazwischen, überall im Tal, tot, vertrocknet, eingeschrumpft wie dürres Holz. Die, die überlebt hatten, wussten nicht, warum. Sie nahmen, was sie für ihre weitere Existenz brauchten, und flohen. Seit damals sind unsere Zelte rot.“
Ioro schauderte. So viele Tote und niemand hatte sie begraben. Würde dieses kleine Feuer ausreichen, sie vor den Geistern zu schützen?
„Du brauchst keine Angst zu haben.“ Die Stimme des Schamanen klang zur Abwechslung fast sanft. „Das ist so lange her, dass nicht nur die Körper längst zu Staub zerfallen sind. Selbst die Geister gibt es nicht mehr. Die Winde haben sie schon vor langer Zeit davongetragen.“
Ioro schluckte. Auch wenn die Geister fort waren, trotzdem … ihm war dieses Tal unheimlich. Schlafen würde er hier auf keinen Fall.
„Und?“, fragte er nach einiger Zeit zögernd. „Warum nennen wir uns die Weißspuren-Sippe?“
„Jeder der Stämme hat sich nach etwas aus diesem Tal benannt“, sagte der Schamane. „An einer Stelle hatte der Zauber nicht so tief gebrannt. Da war nur die dünne obere Schicht des Bodens rot verfärbt. Als unser Ahnherr Prure die Dinge zusammengesucht hatte, die er draußen zum Überleben brauchen würde, sah er seine Spuren im Sand. Sie waren weiß, denn unter seinen Füßen hatte sich der rote Sand zur Seite geschoben.“
Das also war der Ursprung der Sippennamen, Ioro hatte sich schon lange gefragt, woher die Stämme ihre merkwürdigen Namen hatten. Totbaum, Faulwasser, Hängender Fels, Wüstenameise, Pferdeschädel, Ölkrugträger, Grünmesser, Drei Steine und Weißspuren. Neun Namen. Neun Überlebende. Ein paar mehr, wahrscheinlich, sie hatten ja Familien gegründet. Aber es konnten wirklich nicht sehr viele gewesen sein.
Wie musste man sich fühlen, wenn man als Einziger einer Familie, einer Sippe, eines Stammes überlebte? Und welcher Mut gehörte dazu, nach so einem Tag weiterleben zu wollen? Ioro fühlte sich ganz klein.
Der Wind wehte.
Der Geist wurde umhergewirbelt. Verzweifelt versuchte er, sich in den Präsenzen festzukrallen, die er berührte. Aber es gelang ihm nicht, seine Gedanken glitten von ihnen ab.
Der Wind wehte.
Der Geist sah sich in panischer Angst um. Die Welt war grausam leer. In dunklem Licht glommen die Schatten der Mauern der Lebendwelt, in der andere Geister ihre Ruhe gefunden hatten. Beständig und fest glomm das Licht derer, die erst vor kurzem beerdigt worden waren, schwach, fast schon eins mit dem Schatten, das Licht derer, die bereits lange genug in den Mauern ruhten, dass ihre Asche mit dem Stein verschmolzen war. Wenn er doch bloß auch dort ruhen dürfte!
Der Wind zerrte an dem Geist, zerfaserte seine Essenz, trieb ihn wie einen Strohwisch umher.
Der Geist schrie um Hilfe.
Aber die Ruhenden schienen ihn nicht zu hören.
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