Mirsken tauchte abwesend die Feder ein zweites Mal in das Glas.
Es klopfte an der Tür. Ein ungewöhnlich kräftiges Klopfen für diese Zeit. Normalerweise brachten ihre Diener so spät abends nur ein äußerst vorsichtiges, dünnes Klopfen zustande, selbst wenn es fürchterlich dringende Botschaften waren. Welche Katastrophe stand ihr diesmal ins Haus?
„Herein!“
Die schwere Bronzetür öffnete sich. Mirsken brauchte einen Moment um zu erkennen, wer dort stand. Und einen weiteren, um ihren eigenen Augen zu glauben. Die Feder fiel vergessen zu Boden „Sirit!“ Mirsken stand schwankend auf. Im nächsten Moment fühlte sie die Arme ihrer Tochter, die sie an sich presste, als wollte sie sie niemals wieder loslassen.
Die Türe wurde lautlos von außen geschlossen.
„Sirit, du lebst!“ Die Stimme ihrer Mutter war heiser. Kein Wunder. Sirit wusste selbst nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Ihre Mutter packte sie an den Schultern, schob sie ein Stück zurück und musterte sie von oben bis unten. „Dünn bist du geworden, Mädchen. Und ein paar Narben hast du bekommen.“ Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. „Aber sie stehen dir. Sie lassen dich reifer wirken, erwachsener. Jetzt wird dir jeder die Königin abnehmen.“
„Jeder, außer meinem Gemahl.“
„Darüber müssen wir reden, fürchte ich.“ Mirsken führe ihre Tochter zu einer gemütlichen gepolsterten Wandnische. „Aber jetzt setz dich erst einmal. Und dann kannst du mir berichten, was du in den letzten Wintern erlebt hast und wo du gesteckt hast. Im Harem deines Gemahls warst du ja offensichtlich nicht. Wärst du dort geblieben, hätte dein Leben dich wohl nicht so gezeichnet.“
„Falsch, Mutter“, sagte Sirit leise. „Nicht mein Leben hat mich so gezeichnet, sondern mein Gemahl. Jede einzelne meiner sichtbaren Narben verdanke ich ihm. Und nicht nur die sichtbaren.“
Königin Mirsken sah ihre Tochter an, mit einem Blick, den Sirit nicht deuten konnte. Dann strich sie ihr über die Wange. „Kleines …“, sagte sie nur. Zum zweiten Mal in drei Monden konnte Sirit sich nicht beherrschen und weinte sich in einem mütterlichen Schoß aus.
***
Der Schamane stocherte in der Glut. Die Berichte der Späher klangen nicht gut. Überhaupt nicht. Da unten im Süden braute sich etwas Gefährliches zusammen. Er erschauderte.
„Schlechte Omen?“, fragte Ioro, nur halb interessiert.
„Wohl eher schlechte Tatsachen“, murmelte der Schamane.
Ioro hob den Kopf und betrachtete ihn. „Du machst dir Sorgen!“, stellte er überrascht fest.
„Ich fürchte, ich habe allen Grund dazu“, sagte der Schamane finster. „Wir müssen uns nach Norden zurückziehen. Die tote Zone breitet sich aus.“
„Die tote Zone?“
„Ein Bereich, in dem ein Seelenzauber wütet. Der Standort der zweiten Kristallkammer“, gab der Schamane zurück.
„Eine zweite Kristallkammer?“, fragte Ioro überrascht.
„Du weißt wohl nicht sehr viel über eure eigene Geschichte, mein karapakischer Schüler“, gab der Schamane zurück. „Vor den letzten Zauberer-Kriegen hat eine Unterfraktion eurer Zauberer eine zweite Kristallkammer in den Drachenbergen gegründet. Die wurde natürlich beim Aufstand zerstört, aber die Überlebenden der Verlierer gründeten eine neue zweite Kristallkammer, am Ende der Wüste.“
Ioro runzelte die Stirn. „Ich dachte, von der Gegenseite hat keiner überlebt?“
„Das wollten sie euch glauben machen. Aber sie haben sehr wohl überlebt.“ Der Schamane stocherte erneut in der Glut. Ein paar Funken stiegen knisternd auf. „Sie haben sich verkrochen, so, wie sich der Skorpion bei Tage unter den Steinen versteckt. Und dann haben sie gewartet. Darauf, dass sie sich rächen können. Darauf, dass sie wieder stark genug werden.“ Der Stock zerbrach in seiner Hand. „Sie machen das Gleiche wie eure Zauberer in Karapak. Sie sammeln Lebenskraft. Ich weiß nicht genau, wie die im Süden das machen. Aber sie haben etwas, was Seelen frisst, auch ohne sichtbare Spiegel und Kristalle. Etwas, das die tote Zone geschaffen hat. Und weil hier ohnehin sehr viel weniger lebt als in Karapak, fällt es uns auf. Seit dem Ende der Spiegelkriege ist es da. Eine tote Zone. Steine, Sand, und sonst nichts. Nichts lebt mehr in dieser Zone, kein Mensch, kein Tier, keine Pflanze, selbst die Vögel, die darüber hinwegfliegen, fallen tot vom Himmel.“
Ioro zuckte zusammen. Dann konnte er nicht einmal den Falken ausschicken, um diesen Ort zu inspizieren.
„Über Jahrhunderte ist die tote Zone gewachsen, langsam, kaum eine Handbreit pro Regenzeit“, sagte der Schamane. „Bislang haben wir sie meiden können. Aber jetzt … Ich kenne den Auslöser nicht. Aber seit zwei Monden wächst die tote Zone rapide. Zuerst eine Pferdelänge am Tag, jetzt bereits zehn Pferdelängen. Uns bleibt nicht viel Zeit. Die Herden und die Zelte müssen in Sicherheit gebracht werden. Wir müssen nach Norden ausweichen, morgen schon.“
„Nach Norden? Das ist blanker Irrsinn!“ Ioro ballte die Fäuste. „Tolioro wartet doch nur darauf, dass wir in Reichweite seiner Schwerter kommen!“
„Trotzdem.“ Der Schamane maß ihn mit finsterem Blick. „Wenn wir bleiben, wird die tote Zone uns verschlingen.“ Er beugte sich vor. „Was ist schlimmer, mein hitziger junger Schüler: Ein verrückter König, der uns töten will, oder ein tollwütiger Zauber, der unsere Seelen frisst?“
Ioro schwieg. Der Falke auf seiner Schulter krallte sich fester.
*
Drei Tage später zog die Weißspuren-Sippe in einer langen Karawane nach Nordosten, direkt in das Gebiet der Pferdeschädel-Sippe. Ioro hatte es mit Ach und Krach geschafft, seine Sippe davon zu überzeugen, dass sie alleine gegen die Armee Karapaks keine Chance hatten. „Gemeinsam sind wir stärker“, hatte er gesagt. „Danach handelt zumindest Karapak.“ Und die Krieger hatten sich an seine Siege als Feldherr erinnert und ihre Mienen waren grimmig gewesen. Dann hatte der Schamane genickt und die Sache war beschlossen.
Ioro war sich nicht sicher, ob das jetzt gut oder schlecht war.
Jo-im-Falken brütete dunkle Gedanken, während er über dem langsam dahinkriechenden Karawanenzug der Wüstenkrieger kreiste. Skane, der Zauberer, der ihn hereingelegt hatte, gehörte zur zweiten Kristallkammer, soviel war klar. Und die Zauberer im Süden nutzen die Lebensenergie anderer Lebewesen auf die gleiche Art, wie die karapakische Kristallkammer die Hauptstadt anzapfte. Nur – welche Wege gab es dazu, wenn man weder Spiegel noch Kristalle benutzte? Denn beides hätten seine Falkenaugen gesehen, auch wenn er es nicht wagen durfte, die Tote Zone selbst zu überfliegen.
Unter ihm zogen die Weißspuren-Sippe durch ein Dünental. Mehrere hundert Pferdelängen maßen diese Dünen in der Länge. Jo musste zugeben, dass sie imposant aussahen. Selbst aus der Luft. Irgendetwas störte die Herde auf. Vermutlich wieder eine der Ziegen. Die dummen Viecher erschraken manchmal vor ihrem eigenen Schatten. Die Tiere liefen auseinander, einige erklommen fast den Gipfel der Düne. Die kleineren Kinder liefen ihnen hinterher, riefen und schwangen Gerten, um sie zurückzutreiben. Es sah fast dekorativ aus, wie die Fährten in langen geschwungenen Linien die Düne hinaufführten und wieder herab, sich mit andren Fährten kreuzten, sodass sich ein netzartiges Muster ergab …
Das war es!
Für einen Moment vergaß der Falke zu fliegen und stürzte. Wild flatternd fing Jo den Vogelkörper ab. Ein triumphierender Schrei entrang sich ihm. Netze! Hatte nicht die seltsame blasshäutige Zauberin auf dem Schiff ihn damals fast eingefangen mit einem Zaubernetz? Ganz offensichtlich war die Fähigkeit, Energie in größeren Mengen zu sammeln, nicht an Spiegel und Kristall gebunden. Offenbar konnte man die verschiedensten Materialien dazu benutzen. Möglicherweise war es ja nichts weiter als ein Zufall, dass die karapakischen Zauberer ihre ersten derartigen Versuche mit Spiegeln gemacht hatten. Genauso gut hätten sie vielleicht Trinkbecher dazu gebrauchen können. Oder Fischreusen. Denn was hatten Spiegel, Kristalle und Netze gemeinsam? Nichts – außer dass sie einen mehr oder weniger realen Raum umschlossen, in den man hineinsehen konnte. War das etwa alles? War das das ganze Geheimnis?
Читать дальше