Der Wind mochte wehen, soviel er wollte. Dieser Geist saß wieder in einem Körper. Ihm konnte der rastlose Wind nichts mehr anhaben. Er war sicher. Solange der Hausherr ihn nicht fand und wieder vertrieb.
Der Wind wehte.
Der Wind wehte.
Der Geist erkundete seinen Wirt. Ein alter, sehr erfahrener Wirt, dessen Nähe sich anfühlte wie ein glühendes Messer. Der Geist schrak zurück, verkroch sich in einen winzigen, unbeleuchteten Winkel.
Der Geist wartete. Hin und wieder drang ein Bruchstück der Gedanken seines Wirtes zu ihm vor. Der Geist sammelte diese Bruchstücke, setzte sie geduldig zusammen und wartete darauf, dass sich aus ihnen ein Bild ergab.
Der Wind wehte.
Der Wind wehte.
Der Geist sammelte. Erneut bekam er eine Information zu fassen.
Irgendetwas war anders. Der Geist konnte es fühlen. Diese Information, die er gerade eingefangen hatte … Sie war wichtig. Sie war der Schlüssel. Der Geist drehte und wendete die Information in seinen Gedanken, passte sie versuchsweise ein in das Gewebe. Das Puzzlestück klickte in die bereits gefundenen Informationen.
Der Geist erkannte seinen Wirt.
Er kannte seinen Wirt.
Das war die Hand, die ihn von der Straße gesammelt hatte. Das war die Stimme, die ihn dem Alten empfohlen hatte. Das war der Blick, der ihn verächtlich gemustert hatte. Das war der Fuß, der ihn getreten hatte, hinab in den Abgrund, als er im Sterben lag.
Einen Moment lang war der Geist in Versuchung, den Körper fahren zu lassen, sich wieder dem Wind zu überantworten. Dann klang ihn wieder das Lachen im Ohr, das sein Sterben begleitet hatte. Nein. Er würde nicht aufgeben noch vergeben. Dieser hier trug die Schuld an seinem Schicksal. So ungeschoren sollte er nicht davonkommen.
Der Wind wehte.
Hätte er noch eine Stimme gehabt, der Geist hätte in wilder Verzweiflung gelacht. So aber hakte er nur seine spinnwebartige Existenz fester in den Körper.
Der Wind wehte.
Der Geist zog seine Essenz enger zusammen. Nicht auffallen. Warten. Weiter Informationen sammeln. Irgendwann würde er eine Chance bekommen. Irgendwann würde er seine Rache finden.
Der Geist wartete, geduldig, bespähte seinen Wirt wie die Sandotter die Maus. Ein falscher Gedanke, eine falsche Handlung … eine Chance für ihn …
Der Wind wehte.
Skane gestattete sich ein spöttisches Lächeln. Großmeister Ro hatte seine Geschichte anstandslos geschluckt. Sie klang ja auch logisch genug. Es kam immer wieder vor, dass ein uralter Zauberer seinen Geist nicht mehr ausreichend disziplinieren konnte und bei einem seiner Zauber draufging. Ro hatte ihm sofort abgenommen, dass er, Jo, bedauerlicherweise Ak nicht mehr lebend und stattdessen einen großen Krater und etliche neue Schluchten in der Landschaft angetroffen habe. Typische Anzeichen eines entfesselten Spiegels. Inzwischen musste der neue Verwalter des Turms, ein weiterer von diesen alten Zauseln, dort eingetroffen sein. Schließlich war Jo, dessen Gestalt Skane derzeit trug, offiziell immer noch in der Ausbildung und damit nicht befugt, einen Turm in eigener Regie zu leiten.
Skane hätte nur zu gerne gewusst, was das für ein geheimnisvolles Buch war, das Meister Ro so am Herzen lag. Aber obwohl er wirklich gründlich gesucht hatte, durch alle Dimensionen des Turmes hindurch, hatte er nichts gefunden. Ein kleines Buch in einem auffallend blauen Einband. Wo immer Meister Go das versteckt hatte, in seinem alten Turm war es jedenfalls nicht.
Aber der Gedanke an das Buch brachte ihn auf eine Idee. Hatte da nicht neulich einmal ein Diener diese neue Mode in Karapak erwähnt? Bücher, die nur zur Unterhaltung geschrieben wurden? Ziemlich dekadent, wie so vieles in Karapak. Angeblich sollten die Damen des Palastes diese Bücher wie reife Trauben verschlingen. Besonders die Bücher, in denen ziemlich freizügig über erotische Experimente berichtet wurde. Die wollte er jetzt einmal ausprobieren. Sie konnten ja nur interessanter sein als dieser blöde Unterricht, zu dem er in Jos Gestalt zwangsverpflichtet war.
Der Wind wehte.
Der Geist ignorierte ihn. Wer hätte gedacht, dass er so viel finden würde? Sein Wirt bemerkte nicht einmal, dass jemand seine Erinnerungen plünderte. Der Geist glitt einen Nervenstrang entlang. Der Wirt las in einem Buch, amüsierte sich.
Er sollte sich nicht amüsieren! Er sollte nicht lesen können! Ein Impuls raste durch die Nerven.
Skane blinzelte irritiert. Was war denn plötzlich mit seinem Sehen los? Warum verschwamm die Schrift vor seinen Augen? Irritiert legte er das Buch zur Seite und machte ein paar Schritte. Ein erneuter Blick auf das Buch. Die Schrift sah wieder normal aus. Übermüdet, entschied Skane. Es wurde Zeit, dass er mal eine Runde schlief.
Hätte er noch seinen Körper gehabt, der Geist hätte vor Freude getanzt. Er konnte den Körper seines Wirtes beeinflussen! Wenn er behutsam genug vorging, mochte es eine ziemliche Weile dauern, bevor der Wirt merkte, was los war. Und bis dahin ließ sich einiger Schaden anrichten. Vielleicht konnte er ja nicht nur den Körper, sondern auch die Gedanken seines Wirtes beeinflussen?
Das würde er gleich morgen ausprobieren, wenn sein Wirt wieder wach war.
Der Wind wehte.
Aber heute war es dem Geist egal.
*
„Na ist wieder hier.“
Skane brauchte einen Moment, um zu registrieren, dass Meister Uw mit ihm sprach. Fieberhaft kramte er in seinem Gedächtnis. Wer war noch mal Na? Ach ja, der junge Zauberer, der zusammen mit Jo Adept bei Meister Go gewesen war.
Verdammt. Das konnte gefährlich werden. Wenn Na Jo gut genug kannte, fiel ihm die subtile Veränderung von Jos Signatur möglicherweise auf. Wenn man jetzt von ihm erwartete, dass er sich mit diesem Na traf …
„Na braucht von dir Informationen über Ioro. Nach dem Unterricht könnt ihr euch in seinem Turm treffen.“
Scheiße. Informationen über Ioro? Das war das letzte, was Skane liefern konnte. Er hatte zwar Jos Gestalt, aber keine seiner Erinnerungen. Alles, was ihn vor der Enttarnung bewahrte, war die Tatsache, dass die Narren der nördlichen Kristallkammer sich so rein gar nicht für das Leben ihrer jungen Kollegen interessierten. Nur bei Na hatte er Pech. Der kannte Jo zu gut, hatte ihn ja selbst ein Stück weit ausgebildet. Damit war so gut wie sicher, dass Na etwas merken würde.
Wenn er sich andererseits weigerte, dorthin zu gehen, fiel er sofort auf. Skane verfluchte in Gedanken jeden einzelnen Gott, den er kannte.
„Da steckst du ja, Jo!“
Der Mann, der gerade seine Nase in die Bibliothek steckte, musste dieser Na sein. Skane stand mit einem Seufzer auf.
„Tu nicht so, als ob dich diese alten Wälzer mehr interessieren als unser Projekt“, knurrte Na. „Bist doch sonst nicht so ein Stubenhocker! Komm schon.“
Skane verstärkte seine Abschirmung.
Dann folgte er Na in den Turm.
„Also, heraus mit der Sprache“, sagte Na, als sie unter sich waren. „Was brütest du gerade aus?“
„Gar nichts.“
„Halte mich nicht für einen Idioten.“ Nas Stimme sank zu einem gefährlichen Flüstern. „Ich kenne dich gut genug. Wir wissen alle, dass Ioro noch lebt, irgendwo bei diesen Wilden in der Wüste. Seine Signatur ist noch immer sehr aktiv. Und wir wissen auch, dass du irgendwie noch mit ihm Verbindung hältst, weil auch deine Signatur immer wieder, wenn auch schwach, dort geortet wird. Ich kann mir sogar vorstellen, wie du das machst. Du fliegst wieder einen Falken, nicht wahr?“
Einen Falken? In Skane blitzte eine Erinnerung auf. Das Bild in dem Spiegel, wo er einen Falken sitzen sehen hatte in einem Ring von Mäusen. Sollte dieser Jo …
So schnell, wie der Gedanke aufgetaucht war, so schnell verdämmerte er wieder. Was hatte Na gerade Wichtiges gesagt? Skane hatte das deutliche Gefühl, dass er gerade etwas sehr Wichtiges vergessen hatte.
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