Der Geist triumphierte. Er konnte nicht nur den Körper seines Wirtes beeinflussen, sondern auch seine Gedanken. Und sein Feind hatte nichts bemerkt, keinen Verdacht geschöpft. Der Geist war sich jetzt sicher, das Instrument seiner Rache gefunden zu haben. Er musste nur umsichtig damit umgehen.
„… und ich brauche die Informationen über Ioro, damit ich Tolioro ein paar Brocken hinwerfen kann“, sagte Na gerade. „Dieser königliche Psychopath langweilt sich schnell. Wenn ich ihm nichts Interessantes biete, wird er mich nicht länger in seiner Nähe wünschen. Und es liegt mir einfach nicht, ihn bei seinen sonstigen Vergnügungen zu unterstützen. Also, was ist mit Ioro?“
Skane überlegte, ob er sofort zuschlagen sollte.
Nas Augen verengten sich. „Verdammt, Jo, was ist los mit dir?“ Er musterte sein Gegenüber kritisch. „Was verbirgst du? Deine Haltung ist anders. Selbstsicherer. Und selbst deine Signatur …“
Weiter ließ Skane ihn nicht kommen. Aus dem Nichts materialisierte sein Stab in seiner Hand. Er stieß zu.
Dem völligen Unglauben nach, der sich auf Nas Gesicht abzeichnete, hatte der junge Zauberer noch nie in seinem Leben von den schwarzen Stäben gehört. Nas Abschirmung hielt keinen Wimpernschlag lang. Ein langgezogenes Stöhnen entrang sich ihm, als der Stab lebendig wurde, sich wie eine armdicke schwarze Schlange um seinen Körper legte und begann, ihn zu verschlingen.
Die letzten Momente in Nas Leben nutzte Skane, um sich die Signatur seines Gegners, seine Erinnerungen und seinen Körper anzueignen. Dieses Mal war er besser vorbereitet. Seine Tarnung würde kein zweites Mal in Gefahr kommen.
Der Geist wich zurück, als fremde Erinnerungen den Körper seines Wirtes überfluteten. Aber nur kurz, denn er begriff etwas Wichtiges. Diese Erinnerungen durften auf gar keinen Fall seinem Wirt voll zugänglich werden. Der Geist streifte durch die fremden Erinnerungen, selektierte sie, schob einige von ihnen fort und versteckte sie gründlich. Skane würde nicht einmal bemerken, dass ihm Erinnerungen fehlten. Und dadurch würde er irgendwann die nötigen Fehler machen. Der Geist würde schon dafür sorgen.
Skane reckte sich zufrieden. Dieser neue Körper war besser als Jos. Als Adeliger hatte Na in seiner Kindheit weder gehungert noch unnötig unter Krankheiten gelitten. Und Nas Leben war interessanter. Spionage bei Tolioro, soso. Wenn Skane richtig informiert war, war das Verhältnis zwischen dem karapakischen Königshaus und den karapakischen Zauberern nicht gerade das beste. Auch Tolioro nutzte die Zauberer zwar, schätzte sie aber ganz und gar nicht. Damit ließ sich etwas anfangen, zumal Tolioro Na nicht als Zauberer erkannt hatte. Es würde ihm ein Vergnügen sein, noch mehr Zwietracht zu säen. Teile und herrsche. Ein geteilter Feind war ein schwacher Feind. Skane war ausgesprochen zufrieden.
Jetzt musste er nur noch eine Erklärung für Jos Verschwinden finden.
*
Großmeister Ro war sich absolut nicht sicher, was er von dieser Entwicklung halten sollte. Diese jungen Zauberer heutzutage waren extrem unzuverlässig. Es sah diesem Jo zwar durchaus ähnlich, schon wieder seine Ausbildung zu unterbrechen und einfach irgendwo in Richtung Wüste zu seinem Freund Ioro zu verschwinden. Aber irgendetwas stimmte an dem Bild nicht. Ro konnte nur nicht den Finger darauf legen, was ihn störte.
Außerdem war da immer noch das völlig ungeklärte Verschwinden von Meister Ul. Und Aks plötzlicher Tod, durch nichts angekündigt. Normalerweise bemerkte man es an einigen sicheren Anzeichen, wenn ein Zauberer instabil wurde. Ak war Ro immer als die stabilste Seele unter den alten Zauberern vorgekommen.
Und Na war wieder zu Tolioro verschwunden. Fünf Zauberer weniger im Kristallpalast, da sie ja auch noch Ersatz für Jos Turm gebraucht hatten. Sie waren empfindlich geschwächt, soviel war sicher. Was für ein Glück, dass es derzeit weder Gegner noch Krisen für die Kristallkammer gab.
Der Hengst tänzelte und wölbte seinen Hals. Schaumflocken flogen von dem goldfunkelnden Gebiss. Tolioro schaute missbilligend auf die spärliche Menge Tolorier, die seinen Weg vom Stadttor zum Palast säumten. Ein bisschen begeisterter hätten sie ruhig sein können. War er nicht der Vater des Thronerben?
Vor dem Palast warteten Ehrenwachen. Tolioro sprang lässig vom Pferd und warf einem Bediensteten die Zügel zu. Oben auf der Freitreppe, die zum großen Empfangssaal führte, wartete Königin Mirsken auf ihn, in ein prächtiges, natürlich rostrotes Gewand gekleidet, begleitet von einer handverlesenen Gruppe aus Höflingen und Thronratsmitglieder. Tolioro sah mit Befriedigung, dass auch Graf Chilikit unter ihnen war. Dann konnte ja nichts mehr schiefgehen.
Einen Moment ärgerte er sich, als er die Stufen hinaufschritt. Hatte Mirsken das etwa extra so arrangiert, dass er zu ihr aufsehen musste? Aber nein. Sie war nur eine Frau. Noch dazu eine Frau barbarischer Abstammung. Sie hatte keine Ahnung von solchen Finessen.
Tolioro brauchte genau acht Stufen, bevor ihm auffiel, wie vollkommen still es war. Er betrat die neunte Stufe, als er registrierte, dass neben Mirsken eine Frau stand, die weder zu den Höflingen noch zum Thronrat gehörte und die ganz sicher auch keine Dienerin war.
Auf der zehnten Stufe strauchelte er fast. Er hatte die Frau erkannt. Es war seine Gattin Sirit.
Sirit! Bei allen Göttern, wo kam die denn so plötzlich her? Oder war sie die ganze Zeit in Tolor gewesen und man hatte ihm das verschwiegen? Aber nein, dann hätte Graf Chilikit ihn gewarnt. Wieso hatte der überhaupt versäumt, ihn darauf hinzuweisen? Aber Chilikits Gesicht war verkniffen wie eine Zitrone. Wahrscheinlich war er genauso überrascht worden. Verdammt! Hätte diese Frau nicht noch ein paar Tage länger verschwunden bleiben können? Welche Missgunst des Schicksals hatte ihm Sirit ausgerechnet jetzt wieder in den Weg gestellt?
Mit aller Höflichkeit, die er in den langen Jahren bei seinem Vater Kanata geschult hatte, verbeugte Tolioro sich auf der zwölften und letzten Stufe leicht vor Königin Mirsken. „Es ist mir eine Ehre und Freude, der Großmutter meines Sohnes meine Aufwartung machen zu dürfen“, schnurrte er. „Noch überaus erfreuter bin ich, zu sehen, dass auch meine Gattin im passenden Moment den Weg zu Euch gefunden hat. Wir werden eine Menge zu bereden haben.“
*
Ihr Sohn war nicht mitgekommen. Natürlich nicht. Sirit hatte es auch nicht anders erwartet. Der Junge war Tolioros Lebensversicherung. Und genau deshalb war er im fernen Karapak geblieben, bei seiner karapakischen Großmutter. Sirit war sich nicht sicher, ob sie darüber froh oder traurig sein sollte. Zumindest aber vereinfachte es ihr Leben. Kein Kind, auf das sie Rücksicht nehmen, um das sie sich kümmern musste.
Nur ein Ehegatte.
Und eine Mutter.
War sich ihre Mutter überhaupt darüber im Klaren, wie gefährlich die Lage für sie war? Sirit hatte ihrer Mutter alles erzählt, was ihr in Karapak widerfahren war, jedes einzelne, bittere Detail. Auch das, was danach geschehen war. Nur das Letzte, das missgestaltene Kind, hatte sie verschwiegen.
Königin Mirsken hatte die Augenbrauen zusammengezogen, als sie vom Tod ihrer Enkeltöchter hörte, und ihr Mund war schmal geworden, als Sirit berichtete, wie Tolioro die Mauer einreißen ließ, in der die Asche ihrer Töchter geruht hatte. Aber dennoch hoffte Mirsken immer noch, dass sie einen Weg finden würde, mit Tolioro zu leben und Tolor für den Sohn ihrer Tochter zu bewahren.
Tolors Gesetze waren eindeutig. Eine Frau herrschte nicht aus eigenem Recht. Niemals. Sie konnte als Regentin für einen erkrankten Gatten oder ein minderjähriges Kind fungieren. Das erwartete man sogar von ihr. Aber herrschen? Königin Mirsken regierte nur stellvertretend für ihren Enkel. Zumindest solange, wie sie ihren Enkel als geeigneten Erben ansah. Sie konnte jederzeit einen anderen als Erben wählen. War sich Tolioro dieser Gefahr bewusst? Sirit konnte es nicht sagen. Wenn er es allerdings wusste, dann war ihre Mutter in höchster Gefahr.
Читать дальше